Um 10.41 Uhr an diesem Freitag sitzen in der Kathedrale im französischen Digne-les-Bains etwa 500 Menschen beisammen. Sie alle wollen heute in der Nähe des Ortes sein, an dem vor genau zwei Jahren ein ihnen geliebter Mensch sein Leben verlor. Sie schöpfen Kraft daraus, diesen Moment gemeinsam zu begehen. Vielleicht weinen sie, vielleicht beten sie. Man weiß es nicht, denn die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen bei diesem Termin, damit die Hinterbliebenen der Opfer von Germanwings-Flug 4U9525 in Ruhe gedenken können.
Um 10.41 Uhr an diesem Freitag - etwa 1400 Kilometer nordöstlich in einem Berliner Hotel - warten Journalisten auf die Pressekonferenz eines Vaters. Als dieser kurze Zeit später vor die Anwesenden tritt, erklärt er, dass die Version der Wahrheit, von der die 500 Menschen in dem Trauergottesdienst und der Rest der Welt überzeugt sind, nicht stimmt. Er erklärt, dass Andreas Lubitz, der Kopilot von Flug 4U9525, das Flugzeug nicht mit Vorsatz und in suizidaler Absicht gegen ein Bergmassiv gelenkt habe. Und er erklärt, dass die zuständigen Staatsanwaltschaften und Flugsicherheitsbehörden sich zu schnell auf eine bestimmte Version festgelegt hätten.
Germanwings-Absturz:Germanwings-Copilot trägt alleinige Schuld
Fast zwei Jahre nach dem Absturz stellte die Staatsanwaltschaft fest: Weder der Familie noch Vorgesetzten oder Ärzten von Andreas Lubitz kann ein Vorwurf gemacht werden.
Niemand versteht, was Günter Lubitz, den Vater von Andreas Lubitz, bewogen hat, sich ausgerechnet am Jahrestag der Katastrophe zu Wort zu melden. Es ist kein kleiner Auftritt, Lubitz spricht in einem Konferenzsaal vor mehr als 100 Journalisten. Der Termin wurde ein paar Tage zuvor angekündigt, außerdem hat Lubitz der Zeit ein Interview gegeben, in dem er die Öffentlichkeit vorbereitet hat auf das, was er an diesem Freitag sagen würde.
"Geschmacklos" nennt Opferanwalt Elmar Giemulla Lubitz' Verhalten. Giemulla vertritt mehrere Hinterbliebene des Unglücks und sagt, es sei unverantwortlich, "sich genau auf die Sekunde zu dem Zeitpunkt äußern zu wollen".
Lubitz spricht trotzdem. Seine Familie müsse damit leben, dass der Sohn in den Medien als "dauerdepressiv dargestellt" werde. Zum Zeitpunkt des Absturzes habe Andreas Lubitz allerdings gar nicht an einer Depression und an suizidalen Absichten gelitten. Er sei im Gegenteil "lebensbejahend" gewesen. Die Ärzte habe er Ende 2014/Anfang 2015 "ausschließlich wegen seines Augenleidens" aufgesucht. Lubitz wirkt äußerlich gefasst bei dem Auftritt. Er spricht ruhig, liest das Statement vom Blatt ab, einmal ringt er mit sich. Alles an ihm sagt: Ich muss das Bild meines Sohnes geraderücken.
Dieses Bild entstand schnell nach der Katastrophe: Zwei Tage nach dem Absturz hatte sich Brice Robin, der zuständige Staatsanwalt von Marseille, festgelegt. Die Auswertung des Stimmenrekorders lasse nur eine Interpretation zu: Andreas Lubitz habe gezielt gehandelt. Sein Verhalten in den letzten Minuten vor dem Absturz zeige, dass er "den Willen hatte, das Flugzeug zu zerstören", so der Staatsanwalt damals.
Isoliert von den anderen Angehörigen
Wochenlang wurde das Haus der Familie Lubitz im rheinland-pfälzischen Montabaur in der Zeit danach von Reportern und Kamerateams belagert. In Zeitungsartikeln wurden private Fotos, Familiengeschichte, Liebesleben und Krankenakten ausgebreitet, man suchte nach Anzeichen, aus denen sich die monströse Tat ableiten ließ. Familie Lubitz hat das alles stumm ertragen. Sie hat akzeptiert, dass sie in ihrer Trauer isoliert ist von den anderen Angehörigen. Bei der großen Gedenkveranstaltung im Kölner Dom, wenige Wochen nach der Katastrophe, brannten zwar 150 Kerzen, auch eine für den Kopiloten, doch Günter Lubitz und seine Frau erschienen nicht.
Vor knapp einem Jahr, kurz nach dem ersten Jahrestag der Katastrophe, schalteten sie dann in einer Regionalzeitung eine Traueranzeige und bedankten sich "bei allen Menschen in Montabaur" für die Unterstützung und Anteilnahme am Tod ihres Sohnes. Die anderen 149 Menschen, die an Bord von Flug 4U9525 saßen, kamen nicht vor in der Anzeige. Von "Ignoranz und Pietätlosigkeit" sprach anschließend einer der anderen Hinterbliebenen.
Die Pressekonferenz ist das zweite Mal, dass Günter Lubitz an die Öffentlichkeit geht. Den Fragen der Journalisten stellt er sich nicht alleine, sondern zusammen mit zwei Anwälten und dem Berliner Luftfahrtexperten Tim van Beveren. Den hat Lubitz hat ein paar Monaten um Hilfe gebeten. Van Beveren, Autor, Fachjournalist, Gutachter und selbst Pilot, hat sich durch Akten gewühlt, Ärzte befragt und Nachforschungen bei Germanwings und bei der Bundestelle für Flugunfalluntersuchung in Braunschweig angestellt. Akribisch referiert er vor den Journalisten jedes Detail, das seiner Meinung nach Fragen aufwirft in den Ermittlungsergebnissen. Seine Schlussfolgerung: Für die Schuld von Andreas Lubitz am Absturz der Germanwings-Maschine gibt es keinen Beweis.
Die Behörden hätten einseitig ermittelt und gezielt Indizien ignoriert, die der offiziellen Version der Ereignisse widersprechen. So sei die Black Box mit den Aufzeichnungen aus dem Cockpit nur von "fachfremden Ingenieuren" ausgewertet worden und nicht von einem speziell geschulten, sogenannten Human-Factor-Experten. In einem der verschiedenen Transskripte, die von den Stimmenrekorder-Aufzeichnungen angefertigt wurden, wird außerdem nahegelegt, dass Lubitz bis zum Aufprall des Flugzeuges noch lebte, aber zweifelhaft sei, ob "er auch bei Bewusstsein war".
Van Beveren spricht auch von angeblichen Turbulenzen, die zu jenem Zeitpunkt geherrscht haben sollen, von der Türverriegelung, mit der es bei der Maschine bereits zuvor Probleme gegeben habe und von Ungereimtheiten in den Aufzeichnungen des Flugdatenschreibers. Er habe zwar kein "alternatives Unfallszenario", aber für Andreas Lubitz müsse die Unschuldsvermutung gelten, bis das Gegenteil bewiesen sei.
Christoph Kumpa, der Staatsanwalt aus Düsseldorf, der im Fall Lubitz ermittelt hat, weist sämtliche Zweifel an der offiziellen Version zurück. Dass Günter Lubitz Fragen stelle, allen Hinweisen nachgehe und jede nur denkbare Möglichkeiten prüfen wolle, sei "menschlich verständlich". Seine Behörde jedoch habe "keine vernünftigen Zweifel an der suizidalen Absicht" feststellen können. Für andere Szenarien habe es "keinerlei Anhaltspunkte" gegeben.
Dass Andreas Lubitz dauerhaft an Depressionen litt, habe seine Behörde "nie behauptet", sagt Kumpa. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Lubitz nach einer ersten depressiven Episode in den Jahren 2008/2009 erfolgreich behandelt worden sei. Erst Ende 2014 seien erneut Symptome aufgetreten, die für eine neuerliche psychische Erkrankung sprechen, bei der es sich zwar "nicht um eine Depression handelt", allerdings um ein Krankheitsbild, dass "üblicherweise auch mit Antidepressiva behandelt" werde. Um was es sich dabei genau handelt, will die Staatsanwaltschaft mit Rücksicht auf die Patientenrechte von Lubitz nicht sagen. Offenbar haben sich die Ermittler aber nicht eindeutig auf eine bestimmte Diagnose festgelegt.
Einer von 150
"Nach jedem Strohhalm greifen", so hat Opferanwalt Giemulla die Nachforschungen von Lubitz in der FAZ genannt. Seine Mandanten hätten grundsätzlich Verständnis für die Lage des Vaters. Dieses Verständnis sei allerdings irgendwann aufgebraucht.
"Wir haben den Tag nicht gewählt, um die Angehörigen zu verletzen. Wir sind nur auf der Suche nach der Wahrheit", sagt Günter Lubitz bei der Pressekonferenz. Sein Bestreben ist es, seinen Sohn als einen von 150 Toten zu sehen und nicht als Mörder, der 149 andere Flugzeuginsassen getötet hat.
Während Günter Lubitz das sagt, sind die Angehörigen der anderen Flugzeuginsassen auf dem Weg von der Kathedrale in Digne-les-Bains nach Le Vernet. Zu dem Ort, der der unzugänglichen Absturzstelle in den Bergen am nächsten liegt. Zwei Mahnmale stehen dort bereits, an diesem Freitag soll zudem eine Skulptur enthüllt werden, die der deutsche Bildhauer Jürgen Batscheider geschaffen hat: eine Art Sonnenuhr aus geschmiedeten Einzelteilen. Jedes Teil steht für einen Menschen an Bord von 4U9525. Es sind 149 Teile.