Geboren am 11. September:Eine amerikanische Tragödie

Lesezeit: 7 min

Sie wurde am 11. September 2001 geboren, nur Stunden nach den Anschlägen von 9/11. Sie war ein fröhliches Kind, ein "girlie girl" mit einer Leidenschaft für Baseball. Am 8. Januar 2011 zerreißt auf einem Parkplatz in Tuscon eine Kugel ihr neunjähriges Herz. Christina-Tayler Green ist das jüngste Opfer des Gifford-Attentäters.

Reymer Klüver

Im Baseballpark von Canyon Del Oro steht ein Engel. Neun Fuß und elf Zoll ist er hoch, mit einem stilisierten Flügel und ausgestrecktem Arm. Am Rand von Feld eins ist er zu finden, direkt neben einem Hain von dürren, niedrigen Mesquite-Bäumen, die in der kargen Wüstenlandschaft von Arizona allgegenwärtig sind. Ein Engel im Outfield, wie Baseballspieler sagen würden. Wenn man zur Dämmerung hierherkommt, leuchten die Felsen der Santa-Catalina-Berge hinter der Statue aus poliertem Stahl, rot, in den Strahlen der untergehenden Sonne.

Am 8. Januar 2011 verübte ein wirrer Attentäter aus immer noch unbekannten Gründen einen Anschlag auf die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords. Bei dem Blutbad in Tucson in Arizona starben sechs Menschen - das jüngste Opfer war Christina-Taylor. (Foto: REUTERS)

Auf Feld eins hat Christina Taylor-Green Baseball gespielt, ein Mädchen von neun Jahren, das einzige unter lauter Jungs in ihrer Mannschaft. Das sagt schon etwas über ihre Willenskraft. Sie hat vieles geliebt, und Baseball über alles. Deswegen haben sie hier im Park das stählerne Standbild für sie aufgestellt, dessen Maße natürlich kein Zufall sind: 9/11.

Geboren an einem Tag irrer Gewalt

Christina, ein fröhliches, energiegeladenes Mädchen mit langen, braunen Haaren und großen, dunklen Augen, kam am 11. September 2001 zur Welt, nur Stunden nachdem die Zwillingstürme des World Trade Centers in sich zusammengesackt waren.

Die Ärzte im Krankenhaus sagten ihrer Mutter unmittelbar nach der Entbindung, dass sie vielleicht sofort gehen müsse, um Platz zu machen für Notfallpatienten: Ein Flugzeug war in der Nähe abgestürzt, der Jet mit der Flugnummer UA 93, der nach einem Kampf zwischen den Passagieren und den Entführern auf einem Feld im US-Bundesstaat Pennsylvania niedergegangen war. Bald stellte sich heraus, dass es keine Überlebenden gab.

An einem Tag monströser Gewalt also kam Christina zur Welt. Und irre Gewalt riss sie aus dem Leben: Sie starb am 8. Januar 2011 auf einem Supermarktparkplatz in Tucson, Arizona. Eine Kugel aus einer halbautomatischen Waffe hatte ihr neunjähriges Herz zerrissen.

Es sagt schon etwas über unsere Gesellschaft", bemerkt John Green, ihr Vater, fast tonlos, "sie wurde geboren an einem Tag voller Tragik, und sie ging an einem Tag voller Tragik."

Tatsächlich ist Christinas kurzes Leben markiert von zwei Daten, an denen Amerikas Dämonen jäh ihre Fratze zeigten und auf grässliche Weise Opfer verlangten: An 9/11, als der Hass fast 3000 Menschen in den Tod riss - Hass, den dieses Land allein durch seine selbstgewiss demonstrierte Macht und vielleicht auch durch seine unbändige Lebensenergie in aller Welt immer wieder zu erzeugen scheint. Für ein paar Tage fand Amerika damals zusammen wie selten zuvor, in Trauer über die Toten und im Wunsch, dieses Land für die Lebenden zu erhalten.

Und dann am 8. Januar 2011, als ein wirrer Attentäter aus Gründen, die bis heute nicht klar sind, die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords umbringen wollte und vor einem Supermarkt in Tucson in Arizona sechs Menschen erschoss. Das jüngste Opfer war Christina-Taylor.

Fragwürdige Freiheit

Schockiert fragten sich viele Amerikaner da, wie hoch der Preis der Freiheit sein dürfe. Der Freiheit, praktisch ungehindert Waffen tragen zu können. Der Freiheit, sich wechselseitig zu denunzieren, anzubrüllen und niederzumachen, in den Kabelsendern, in Bürgerversammlungen, im Internet. Viele fragten, ob die ätzende Rhetorik zwischen den politischen Lagern in den USA vielleicht nicht doch außer Kontrolle geraten sei. Zumindest für ein paar Tage hielt auch da das Land inne.

John Green ist ein Bär von einem Mann, groß, mit mächtigem Schädel, ruhigen Bewegungen und einer rauen, kratzigen Bariton-Stimme, so wie sie die guten Helden in alten Westernfilmen haben. Er wirkt wie jemand, bei dem man in Gefahr instinktiv Schutz sucht. Einer, der die eigenen Gefühle eher nicht zeigt, weil er andere damit nicht belasten will. Einer, der sich permanent zusammenreißt. Und er hat in den Wochen und Monaten seit den tödlichen Schüssen wohl nur gesprochen, weil er glaubt, dass er dem Tod seiner Tochter jedenfalls einen Hauch von Sinn abgewinnen kann, wenn er davon erzählt, welche Kraft in dem Mädchen steckte.

Zehn Jahre nach 9/11
:Als die Zeit stehenblieb

Eine Uhr fällt von der Wand und hält den Moment für immer fest. Eine Flugbegleiterin trägt pflichtbewusst jeden Flug in ein Notizbüchlein ein - auch ihren letzten. Eigentlich alltägliche Fundstücke erzählen in einer Ausstellung ihre ganz eigene Geschichte vom Schicksalstag 9/11.

Christina-Taylor Green hatte ein feines Gespür dafür, an welchem Datum sie ihren Geburtstag feierte. Für die Greens war Christinas Geburt "ein Hoffnungsschimmer an einem schrecklichen Tag. So muss man es wohl sagen", formuliert John Green.

Ausgerechnet sie war auch noch eines der 50 Babys - eines aus jedem US-Bundesstaat -, deren Fotos in einem Buch zum ersten Jahrestag der Anschläge veröffentlicht wurden: "Faces of Hope" - Gesichter der Hoffnung lautete der Titel. In dem Buch stehen neben Christinas Foto ein paar Wünsche: "Hoffentlich springst du mal in Pfützen." Oder: "Hoffentlich kannst du mal die Nationalhymne auswendig und singst sie mit der Hand auf dem Herzen." Und schließlich: "Hoffentlich wirst du eines Tages Bedürftigen helfen."

"Sie war wirklich sehr patriotisch"

So wurde ihr Leben von Beginn an tief durch 9/11 geprägt. "Christina-Taylor war sich des Datums immer sehr bewusst", sagt ihre Mutter Roxanna Green, eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die im Gegensatz zu ihrem Mann sehr extrovertiert wirkt. Die Lebenslust hatte Christina wohl von ihr. Den nationalen Gedenktag machte sie, wie es Kinder eben tun, kurzerhand zu ihrem ganz persönlichen Ehrentag: "Sie war wirklich sehr patriotisch, Rot, Weiß und Blau zu tragen, war ihr wichtig." Sie wollte "das Positive an dem Tag" sehen, wie ihre Mutter formuliert: "Sie sah in 9/11 einen Tag der Hoffnung und des Wandels, eine Chance für das Land, wieder zusammenzufinden."

Und Christina-Taylor hat sich trotz ihres jungen Alters anscheinend schon für Politik interessiert. "Ich glaube, auch das hatte viel damit zu tun, dass ihr bewusst war, an 9/11 geboren zu sein", sagt ihre Mutter.

Im Herbst war Christina ins Schülerparlament ihrer Grundschule gewählt worden. Sie hatte richtig Wahlkampf gemacht: Hoffnung und Wandel hatte sie versprochen, so wie sie es im Präsidentschaftswahlkampf zwei Jahre zuvor erlebt hatte. Ihre Großmutter hatte sich für die Wahl Barack Obamas engagiert. Und weil sie sich so für politische Fragen interessierte, bot ihr eine Nachbarin an, sie an jenem klaren Samstagmorgen im Januar mit zur Bürgersprechstunde ihrer Kongressabgeordneten zu nehmen.

Wer sollte auch ahnen, dass ausgerechnet dort der gewalttätige Hass hervorbrechen würde, der in Amerika immer wieder zum Vorschein gekommen ist, im mentalen Grenzland zwischen politischem Fanatismus und schlichtem Wahnsinn?

So wie 1995 beim Bombenanschlag von Oklahoma, als 168 Menschen starben. Bei den Anschlägen des Unabombers, dem drei Menschen zum Opfer fielen. Oder bei den Mordattacken auf Abtreibungsärzte mit acht Toten innerhalb von zwei Jahrzehnten.

In den Monaten vor dem Attentat von Tucson, bei dem sechs Menschen sterben sollten, waren die Klagen in den USA immer lauter geworden über den radikalen, hassgeschwängerten Widerstand gegen Obamas Gesundheitsreform. 20 demokratische Kongressabgeordnete wurden von Sarah Palin auf einer USA-Karte mit Fadenkreuzen markiert, wie man sie aus dem Zielfernrohr von Gewehren kennt. Kongressabgeordnete hatten Todesdrohungen erhalten. Zwei ihrer Büros waren verwüstet worden - eines davon war das von Gabrielle Giffords.

Christina war aufgeregt. Sie wollte Giffords nach der Ölpest im Golf von Mexiko fragen - und danach, wie es so ist in der Politik. "Für ein neunjähriges Mädchen hatte sie einen weit entwickelten Gemeinschaftssinn und Gespür für andere", sagte ihr Vater bei der Einweihung des Engels im Ballpark von Canyon del Oro. "Und ich glaube, dass auch das mit 9/11 zu tun hatte."

Dabei war Christina trotz allem ein richtiges girlie girl, wie es im Amerikanischen heißt. Sie tanzte im Ballett, schmückte ihr Zimmer pinkfarben aus, liebte strassbesetzte Turnschuhe und natürlich Pferde. Sie konnte aber auch wild wie ein Junge sein, war erfolgreich im Schwimmen - und eben beim Baseball, wo sie, wie ihre Trainer sagen, schneller lief und weiter warf als manch gleichaltriger Junge.

Baseball, dieser uramerikanische Sport, spielte immer eine zentrale Rolle im Leben der Familie. Christinas Großvater war Profi-Pitcher und führte später die Phillies als Manager zur Meisterschaft. Ihr Vater ist Scout für die Los Angeles Dodgers, er sucht junge Talente in Ballparks wie jenem, in dem seine Tochter gespielt hat. Auch sie hatte Talent, und vor allem Willen. Sie wollte die erste Profispielerin in dem Sport werden, der bis heute eine Macho-Enklave ist.

Die Trauer überkommt den Vater immer wieder

Die Greens sind gläubige Christen. Das gibt ihnen offenkundig Trost. Sie glauben, wie John Green sagt, "dass Christina vom Himmel herabschaut mit einem großen Lachen im Gesicht und will, dass alle glücklich sind". Seine Frau Roxanna hat eine Stiftung zu Ehren Christinas gegründet, die Schulen unterstützt. Als Erstes erhielt Christinas Grundschule, aus dem Spendengeld finanziert, einen neuen Spielplatz. "Im Namen meiner Tochter etwas geben zu können, verschafft mir große Freude", sagt sie.

John Green strengt sich an. Er will ebenfalls eine Haltung ausstrahlen, auf die seine Tochter stolz wäre, wenn sie ihn denn sehen könnte. Doch es fällt ihm schwer. Die Trauer überkommt ihn immer wieder. Einfach so.

Manchmal morgens beim Aufwachen: "Sie kam immer rein und sagte: Daddy, es ist Zeit zum Aufstehen. Aber heute morgen, da hat sie es nicht gemacht." Er fasst sich kurz an die Nasenwurzel, als könne er so die Tränen zurückdrücken. Oder im Auto, wenn er, nicht ganz zufällig, ihren Lieblingssender eingibt. "Das mache ich, um ein bisschen mit ihr zusammen zu sein." Wenn auch noch einer ihrer Lieblingssongs von Beyoncé gespielt wird, überkommt es ihn.

Auch John Green hat eine Antwort gesucht auf die Frage, die sich das Land stellt, immer wieder stellt, nach 9/11: Wie hoch ist der Preis der Freiheit? Hat Amerika nicht schon zu viel aufgegeben? Die Kontrollen an den Flughäfen, die allgegenwärtigen Videokameras, die Telefonüberwachung von Auslandsgesprächen - gibt es kein Leben ohne Verdacht mehr?

Nach dem Tod seiner kleinen Tochter stürmten wieder Fragen auf ihn ein. Müssten nicht die Gesetze endlich verschärft werden, damit nicht jeder Wirrkopf an eine Waffe kommt? Was tun gegen all die virulente Gewalt? Und sollten die Menschen bei öffentlichen Versammlungen nach Waffen durchsucht werden? John Green hat das alles in seinem Herzen hin und her bewegt. Seine Frau würde spontan wohl glatt mit ja antworten. Er aber sagt: "Noch leben wir hier freier als irgendwo anders auf der Welt. Wir brauchen nicht mehr Einschränkungen für unsere Gesellschaft. Solche Dinge passieren dann wohl. Ich glaube, das ist der Preis, den wir zahlen müssen."

Seine Stimme hört sich wieder merkwürdig tonlos an. "I love you, daddy", hatte Christina ihm zugerufen an jenem Morgen, ehe sie zur Nachbarin hinüberlief, um zu Gabrielle Giffords' Bürgersprechstunde zu gehen. Das waren die letzten Worte, die er von seiner Tochter gehört hat.

© SZaW vom 10./11.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: