Getötetes Kind in Frankfurt am Main:Unvermittelter Angriff auf dem Bahnsteig

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  • Ein achtjähriger Junge stirbt auf dem Hauptbahnhof in Frankfurt, nachdem ihn ein Mann vor einen einfahrenden ICE gestoßen hat.
  • Die Tat löst Entsetzen aus. Das Motiv des Mannes, der aus Eritrea stammt, ist unklar, die Polizei spricht derzeit von einem "Tötungsdelikt".

Von Jan Willmroth, Frankfurt

Während der Sommerferien sieht der Frankfurter Hauptbahnhof anders aus, es rempeln sich weniger Pendler an, und die sonst übliche Hektik in dieser von Arbeitswut geprägten Stadt hat sich ein wenig verzogen. Familien sind unterwegs, viele Kinder jedenfalls, die mit ihren Eltern im Zug verreisen, Frankfurt ist auch für den Schienenverkehr Drehkreuz. Und so stehen an diesem Montagmorgen viele Kinder am Gleis sieben und warten auf den ICE 529 aus München in Richtung Düsseldorf. So voll wie die Züge auf dieser Verbindung sind regelmäßig auch die Bahnsteige in Frankfurt, ganz unabhängig von der Jahres- oder Ferienzeit.

Als der Zug einfährt, stößt ein dunkel gekleideter Mann unvermittelt eine Mutter, 40, und dann ihren Sohn, 8, vom Bahnsteig. Die Mutter kann sich aus dem Gleisbett retten, der Junge wird vom Zug überrollt und stirbt. Eine weitere Frau, die der mutmaßliche Täter auf die Gleise schubsen wollte, wehrt sich und bleibt unversehrt, so bestätigt es später die Polizei. Der mutmaßliche Täter, ein 40-jähriger Eritreer, läuft weg, Augenzeugen verfolgen ihn, stellen ihn knapp außerhalb des Bahnhofs und halten ihn fest, bis die Polizei eintrifft. Der Hessische Rundfunk und andere Medien berichten von Augenzeugen, die weinend zusammenbrechen, von bleichen Gesichtern, von 16 Rettungswagen und einem Hubschrauber im Einsatz.

Am frühen Nachmittag hat sich die Nachricht von der Tat und dem Tod des Jungen deutschlandweit und weit über die Staatsgrenzen hinaus verbreitet, Nachrichtenseiten haben Eilmeldungen auf Telefone verschickt, rechtsextreme Politiker und Publizisten haben den Tathergang und die Nationalität des Mannes längst instrumentalisiert und verstärken die öffentliche Erregung mit rassistischen Impulsen. Neun Tage sind vergangen, seitdem in Voerde eine 34-jährige Mutter starb, vor einen einfahrenden Zug geschubst; wohl auch deswegen ist die Aufmerksamkeit am Montag groß. Sie wächst derart, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) beschließt, seinen Urlaub abzubrechen, um sich mit Vertretern von Sicherheitsbehörden zu treffen. Er zeigte sich tief bestürzt von dem Geschehen und sagte, er wünsche den Angehörigen und Freunden des getöteten Jungen "die notwendige Kraft, um mit diesem schlimmen Ereignis umzugehen".

Hinter weiß-rotem Absperrband steht gegen halb zwei eine Sprecherin der Frankfurter Polizei und sagt in Fernsehkameras, wie viel sie weiß und wie viel nicht. Die Gleise vier bis neun sind gesperrt, der Rollkofferstau fließt zäh an den Fernsehteams vorbei, Service-Mitarbeiter der Bahn verteilen Tetrapak-Wasser und Gummibären. Mindestens 150 Meter entfernt sind Techniker und Kriminalbeamte noch an dem Schnellzug zugange, den der Lokführer vier Stunden zuvor per Notbremse gestoppt hat. Die Feuerwehr ist größtenteils weg. Auf den freien Bahnsteigen gehen Polizisten Patrouille. Manche Eltern halten ihre Kinder besonders fest, sobald die Stimme aus dem Lautsprecher die Einfahrt eines Zuges ankündigt, einige scheinen sich lieber zweimal umzuschauen.

Der Mann soll sein Opfer wahllos ausgesucht haben

Am Tatort liegt eine erste Rose. Der mutmaßliche Täter und seine Opfer hätten sich nicht gekannt, heißt es von der Polizei, auch habe es nach ersten Erkenntnissen keinen Streit gegeben. "Momentan müssen wir davon ausgehen, dass der Mann seine Opfer wahllos ausgesucht hat", sagt die Sprecherin, während ihre Kollegen anderswo in der Stadt gerade den mutmaßlichen Täter verhören, der nach Informationen des Hessischen Rundfunks seit 2006 in der Schweiz wohnt.

"Zu einem möglichen Tatmotiv können wir noch nichts sagen." Im Fall des mutmaßlichen Täters von Voerde präsentiert die Staatsanwaltschaft unterdessen neue Erkenntnisse. Im Blut des 28-jährigen Mannes seien Abbauprodukte von Kokain gefunden worden, teilen die Ermittler am Montag mit. Ob er während seiner mutmaßlichen Tat unter Drogeneinfluss gestanden hat, wisse man jedoch nicht. Der Verdächtige schweige weiterhin zu den Vorwürfen. Zeugen hatten beschrieben, wie sich der in Deutschland geborene Kosovo-Serbe der Frau wortlos von hinten genähert und sie ins Gleisbett geschubst habe. Er soll nach Erkenntnissen der Ermittler aus purer Mordlust gehandelt haben; die junge Mutter starb, weil sie zufällig an diesem Ort war.

Auf einen Zufall deutet derzeit auch in Frankfurt alles hin. Mehr als das Wort "Tötungsdelikt", dessentwegen man ermittle, verwendet die Polizei zunächst nicht. Per Zeugenaufruf sucht sie nach Hinweisen zum Tathergang und hat unter der Nummer 069/755-51199 ein Hinweistelefon eingerichtet. Innenminister Seehofer kündigte an, am Dienstag die Öffentlichkeit zu informieren.

© SZ vom 30.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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