Die Szene, sie trug alle Züge der Verzweiflung. Als die spanische Hilfsorganisation Open Arms neulich einige Seemeilen vor Lampedusa ein kleines, blaues Holzschiff im großen Blau des Mittelmeers entdeckte, war es zur Hälfte mit Wasser voll. Es driftete schon seit Tagen auf dem Meer. Eingehakt in der Reling fanden sie einen roten Rucksack, Meerschnecken hatten sich an die Tasche geheftet - eine weitere Reminiszenz an die stille Tragödie, die sich da Tag für Tag vor den Toren Europas zuträgt. Dachten sie. Die Holzbarke war ein havariertes Flüchtlingsboot, Menschen waren keine mehr da.
Die Mitarbeiter von Open Arms legten alles, was sie in dem Rucksack fanden, zum Trocknen aufs Deck ihres Schiffs, machten Fotos der Auslage und posteten die Bilder in den sozialen Medien. Das tut die Organisation immer, um Angehörige zu finden, die die Sachen erkennen, damit sie wenigstens Gewissheit haben. Es waren vor allem Kleider: Jeans, eine Trainingshose, Sportschuhe, ein Shirt des Basketballvereins Los Angeles Lakers mit der Nummer 23, dazu Notizblätter in arabischer Schrift - und zwei Eheringe, eingepackt in ein Stück Stoff, mit Gravuren: "Ahmed" und "Doudou". Die italienische Zeitung La Repubblica publizierte die Fotos und schrieb dazu: "Das ist alles, was übrig bleibt von der jungen Liebe von Ahmed und Doudou, die auf dem Grund des Meeres endete, an einem Tag im November."
Sie hatten Angst, dass man ihnen die Ringe stehlen könnte
Nun, dann passierte etwas Unerwartetes, endlich mal etwas Schönes. Die humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen, die im sizilianischen Agrigento ein Auffanglager für Flüchtlinge betreut, erkannte die Namen. Die algerischen Eheleute Ahmed, 25, und Doudou, 20, sind in ihrer "Casa dei Gabbiani" untergebracht, dem Haus der Möwen, seit sizilianische Fischer sie aus den Wellen vor Lampedusa gerettet haben und an Land brachten. Das war im Oktober, die Nachricht ging unter im Strom vieler ähnlicher Geschichten von der Fluchtroute durch das zentrale Mittelmeer. Gestartet waren sie in Zawiya, einer Hafenstadt im Westen Libyens, am 19. Oktober. An Bord waren sie zu zwanzigst: Libyer, Marokkaner, Algerier. Die See war rau, nach zwei Tagen ging der Treibstoff aus. Fünf Passagiere kamen ums Leben, auch ein zweijähriges Kind. Die anderen hatten Glück, die Fischer waren zufällig in der Zone.
Sie hätten erst kürzlich geheiratet, erzählte Ahmed den Helfern von Ärzte ohne Grenzen. Die Ringe? Sie hatten Angst, dass man sie ihnen stehlen würde oder dass sie kaputt gehen könnten auf der Flucht. Darum wickelte er sie in ein Tuch ein und packte sie in seinen Rucksack. Ahmed hatte vor, sie polieren zu lassen, wenn sie dann mal in Europa angekommen sein würden. "Als sie mir die Bilder zeigten von meinen Sachen, konnte ich es nicht glauben." Sie dachten, sie hätten alles verloren. Nur einander nicht.