Erziehung in Japan:Ein Nagel, der herausragt, muss eingeschlagen werden

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Am Ende hat Yamato Tanooka seinen Eltern eine Lektion erteilt. (Foto: Reuters)

Ein Kind zur Strafe im Wald aussetzen? Viele Japaner verstehen unter Erziehung bis heute militärisch anmutende Methoden.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Ein Seufzer geht durch Japan, Yamato Tanooka lebt. Das ganze Land hatte bei der Suche nach dem Siebenjährigen mitgefiebert, den seine Eltern vorletzten Samstag auf einer einsamen Bergstraße auf Hokkaido ausgesetzt hatten, um ihn zu bestrafen. Am Freitag war Yamato dann in einer unbenutzten Armeebaracke zufällig gefunden worden. Er war unterkühlt, leicht dehydriert, aber gesund.

Drei Soldaten hatten, wie Yamato selbst, seit jenem Samstag in der Hütte Schutz vor Regen und Kälte gesucht und so den Kleinen gefunden. Nachdem ihn seine Eltern alleine gelassen hatten, war er fünf Kilometer den Berg hinuntergeklettert und dabei auf die Hütte gestoßen, in der dünne Matratzen lagen. Es gab dort auch fließend Wasser. Gegessen hatte er sechs Tage lang nichts.

Bevor Yamato wieder auftauchte warfen drei Viertel der Kommentatoren auf Japans sozialen Netzwerken dem Vater Kindesmisshandlung vor. Doch die Stimmung ist gekippt, ja wirklich: Inzwischen finden die meisten, dass Yamatos Eltern eine adäquate Erziehungsmaßnahme angewandt hätten. Unter Disziplinierung und Erziehung verstehen viele Japaner bis heute militärisch anmutende Methoden. Den Kindern soll Härte vermittelt werden. Aber gleich im Wald aussetzen? Der Erziehungswissenschaftler Naoki Ogi von der Waseda-Universität sagte in der Presse, er höre häufig von solchen Geschichten.

Furcht vor dem, was die Leute denken

Yamato war mit den Eltern Waldgemüse suchen, warf aber Steine auf vorbeifahrende Autos. Der Polizei sagte der Vater zuerst, der Junge sei im Wald abhandengekommen. Erst später räumte er ein, den Sohn zur Strafe ausgesetzt zu haben. Er begründete seine Lüge mit der Furcht vor dem, "was die Leute denken". Das ist in Japan wichtiger, als was ein Mensch selber fühlt. Wer sich dem nicht fügt, wird geächtet. Was die Leute in Fällen wie diesem denken, bestimmen die Medien mit.

Nach fünf Minuten habe er Yamato wieder holen wollen, so Vater Takayuki Tanooka später unter Tränen. "Ich wollte ihn nur ein bisschen einschüchtern." Doch der Kleine war schon verschwunden. 200 Polizisten, Feuerwehrmänner und am Schluss auch die Armee hatten Yamato sechs Tage lang gesucht.

Kleine Japaner dürfen zu Hause beinahe alles, aber spätestens mit der Schule beginnt der Ernst. Ein Nagel, der herausragt, muss eingeschlagen werden, lautet ein bekannter Spruch. Die Kinder lernen bald, bloß nicht aufzufallen und sich zu fügen. Gruppendruck gibt es auch von den Kameraden. In den vergangenen Jahren sind mehrfach Kinder von Mitschülern bis zum Suizid schikaniert worden.

Viele Kinder besuchen schon vom ersten oder zweiten Lebensjahr an den Kindergarten. Er nimmt den Eltern wichtige Aufgaben ab: das Töpfchen-Training, das Selber-essen- und das Sprechen-Lernen. Strafen gibt es im Kindergarten kaum. Stattdessen wird, soll ein Kind zurechtgewiesen werden, der Gruppendruck der anderen Kinder provoziert.

Viele Eltern in Japan überlassen die Erziehung ihrer Kinder den Bildungseinrichtungen. Väter spielen ohnehin oft keine große Rolle im Familienalltag, sie sind meist mehr mit ihrer Firma verheiratet. Sie sehen ihre Kinder kaum, arbeiten zu lange und müssen abends mit den Kollegen noch ausgehen. Was denken die sonst.

Ist das die Härte, die Kindern in Japan beigebracht werden soll?

Takayuki Tanooka scheint zwar kein solcher Vater zu sein. Er ging mit seiner Familie Waldgemüse suchen, eine Delikatesse wie bei uns Pilze. Aber offenbar setzte auch er eher auf drastische Erziehungsmethoden, wie sie mitunter eben in Schulen eine Rolle spielen. Vielleicht hat er auch einfach nur die Geduld verloren und überreagiert, jeder weiß, dass Siebenjährige nerven können. Dafür ist er für den Rest seines Lebens gezeichnet.

Sein Sohn hätte vielleicht warten sollen. Doch Yamato hat sich stattdessen mutig durch den Wald geschlagen, in dem Bären leben, und in der Hütte Schutz gesucht, also das Beste aus seiner Situation gemacht. Ist das die Härte, die Kindern in Japan beigebracht werden soll? Inzwischen ist er wieder bei seinen Eltern und seiner Schwester.

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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