Erdbeben in Chile:Armee rückt gegen Plünderer aus

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Mit Tränengas gegen das Chaos: Chiles Regierung geht im Erdbebengebiet gegen Plünderer vor. Indessen wird Kritik an den Behörden laut.

Zwei Tage nach einem der schwersten je registrierten Erdbeben mit mehr als 700 Todesopfern hat die chilenische Regierung entschiedene Maßnahmen zur Überwindung der Katastrophe ergriffen. Angesichts zunehmender Plünderungen wurde der Ausnahmezustand über die besonders betroffenen Regionen Maule und Bío Bío verhängt. 10.000 Soldaten sollen das drohende Chaos bekämpfen. Am Montagmorgen erschütterte ein Nachbeben der Stärke 6,2 das südamerikanische Land.

Unterdessen wurde erste Kritik am Katastrophen-Warnsystem des Landes laut. Da der Großteil der Opfer in den überfluteten Küstengebieten lebte, machte der chilenische Verteidigungsminister Francisco Vidal der Marine wegen einer ausbleibenden Tsunami-Warnung schwere Vorwürfe. Auch Präsidentin Michelle Bachelet habe die Gefahr einer zerstörerischen Riesenwelle zunächst unterschätzt.

Der Erdstoß der Stärke 8,8 am frühen Samstagmorgen war eines der zehn stärksten Beben, die weltweit je gemessen wurden. Die Zahl der registrierten Todesopfer wurde am Montag zunächst mit 711 angegeben. "Es wird aber weiter nach einer unbekannten Zahl von Vermissten gesucht", betonte die Leiterin des Zentrums für Katastrophenschutz, Carmen Fernández.

Überforderte Sicherheitskräfte

Vor allem in Maule und Bío Bío galten zahlreiche Menschen noch als vermisst. Die genaue Zahl der Obdachlosen war zunächst unbekannt. Bachelet hatte am Vortag von 1,5 Millionen zerstörten oder beschädigten Wohnungen gesprochen.

Die Präsidentin kündigte einen Aktionsplan an, der die Verteilung von Lebensmitteln, Decken und Medikamenten an Hunderttausende Bedürftige vorsieht. Sie bat erstmals auch das Ausland um Hilfe. Chile benötige Unterstützung für Krankenhäuser, Behelfsbrücken, Kommunikationseinrichtungen, Rettungsexperten, Statiker und Wasserentsalzungsanlagen.

In der Stadt Concepción etwa 500 Kilometer südlich von der Hauptstadt Santiago, wo es zuvor zu zahlreichen Plünderungen gekommen war, leerten sich wegen einer Ausgangssperre ab dem Abend die Straßen. Nur wenige Menschen wagten sich angesichts des Risikos einer Festnahme aus den Häusern. Bei der Verteilung von kostenlosen Lebensmitteln kam es jedoch zu Rangeleien und die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein.

Einen Tag nach dem Jahrhundertbeben war die Lage in den besonders betroffenen Regionen Bío Bío und Maule von zunehmender Verzweiflung und Chaos geprägt. Hunderttausende Menschen, die oft ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, warteten zunehmend ungeduldig auf Hilfe. Die Sicherheitskräfte waren weitgehend überfordert.

Auch aus anderen Ortschaften in den von dem Beben und der folgenden Flutwelle schwer zerstörten Regionen klagten Menschen über ausbleibende Hilfen. Fast alle Geschäfte in der Katastrophenregion etwa 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago waren geschlossen. Andere boten ihre Produkte zu stark überhöhten Preisen an. Vielerorts gab es weder Strom noch Gas und Wasser, das Telefonnetz war unterbrochen.

"Wir haben Durst und Hunger"

In Concepción plünderten Hunderte Menschen einen Supermarkt. "Wir haben Durst und Hunger", sagt ein Mann, der in dem allgemeinen Durcheinander einen Beutel mit Lebensmitteln ergatterte. Durch die aufgebrochene Laderampe des Großmarkts stolperten hastig Frauen, Kinder und Männer mit allem im Arm, was sie greifen konnten. Drinnen hasteten die Menschen mit Einkaufswagen zwischen den nur spärlich beleuchteten Regalen umher und griffen dies und das. Während Mütter sich mit Windeln und Trockenmilch eindeckten, schleppten junge Männer Kühlschränke und Flachbildschirme davon.

Die Polizei hatte die Plünderung zunächst zugelassen, weil die Not der Menschen offensichtlich war. Dann aber änderte sie offenbar ihre Meinung. "Die Situation war von Anfang an völlig chaotisch. Wir tun, was wir können", sagte der Polizist Jorge Córdova.

Vorwürfe gegen Marine und Präsidentin

Viele Menschen fielen nicht dem Beben selbst, sondern der davon ausgelösten Flutwelle zum Opfer. Der chilenische Verteidigungsminister Francisco Vidal macht der Marine schwere Vorwürfe: Sie habe keine Tsunami-Warnung herausgegeben.

Auch Präsidentin Michelle Bachelet hätte die Gefahr einer zerstörerischen Riesenwelle unmittelbar nach dem Beben zunächst heruntergespielt. Hafenkapitäne hätten jedoch in Eigenregie vor einem Tsunami gewarnt und damit Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen gerettet, sagte Vidal auf einer Pressekonferenz.

Mehrere Küstengebiete waren am Samstag von Wellen getroffen worden. Die Behörden mussten später einräumen, dass es sich um Tsunami-Wellen gehandelt habe.

Die Marine hat für solche Fälle einen Notfallplan, der es den lokalen Behörden erlaube, die Bevölkerung zu warnen, auch wenn es dazu keine Anweisung gebe, sagte Vidal. "Dank dieses Systems konnten die Menschen trotz des Diagnosefehlers (der Marine) alarmiert werden und sich auf Hügel retten." Zwischen dem Beben und den Tsunami-Wellen verstrichen nur etwa 30 Minuten.

Im Video: Retter suchen weiter nach Verschütteten. Bislang sind über 700 Tote registriert.

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Während die befürchteten Riesenwellen über den Pazifik ausblieben, verschlimmerten die Wassermassen in Chile das Elend noch weiter. "Es bebte und dann kam das Meer in unser Haus, es reichte uns bis zum Hals", sagte eine Einwohnerin von Iloca im Süden des Landes.

In der Stadt Talcahuano bot sich wie in vielen anderen Küstenorten ein Bild des Schreckens: Während selbst größere Schiffe bis ins Stadtzentrum geschwemmt wurden, dümpelten Reste von Holzhäusern im Meer.

Nach dem Hilferuf der Präsidentin versprach das Ausland Unterstützung: "Die UN, insbesondere der Nothilfekoordinator, stehen bereit", sagte Generalsekretär Ban Ki Moon in New York. Die EU-Kommission gibt drei Millionen Euro als Soforthilfe.

Erste Hilfsmannschaften aus Deutschland machten sich auf den Weg ins Katastrophengebiet. Über deutsche Opfer lagen dem Auswärtigen Amt in Berlin keine Informationen vor.

Auf dem erheblich beschädigten internationalen Flughafen von Santiago landete am Sonntag erstmals wieder eine Passagiermaschine.

Nachbeben erschüttert Chile

Nach dem Hauptbeben wurde Chile immer wieder von Nachbeben erschüttert. Ein besonders starkes ereignete sich am Montagmorgen. Dieses hatte nach Angaben der US-Erdbebenwarte die Stärke 6,2. Sein Epizentrum lag in etwa 35 Kilometer Tiefe, gut hundert Kilometer nordöstlich der Stadt Talca.

Wegen des Bebens vom Samstag gab die Tsunami-Warnzentrale auf Hawaii einen Alarm für 53 Pazifik-Anrainerstaaten heraus. Allerdings blieben die Auswirkungen außer in Chile begrenzt und es wurden keine weiteren Opfer aus Australien, Tonga, Japan, Russland oder Hawaii gemeldet.

© dpa/APN/AFP/kat - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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