Dann war er auf einmal da, dieser eiserne Vorbote der Freiheit. Wochenlang hatten die 33 eingeschlossenen Bergarbeiter in der Mine San José im Norden Chiles gehört, wie der Bohrkopf näherkam, sich hämmernd zu ihnen in die Tiefe fraß. Wie er Felsen zermalmte und stoppte, wenn Reparaturen anstanden. Das Geräusch war erst ganz leise und wurde langsam lauter. La Milagrosa, die Wundersame, nennen Opfer und Angehörige die Maschine vom Typ Schramm T-130. Am Samstagmorgen um 8.05 Uhr verschwand am einen Ende der weiße Strich für die ersehnte Marke von 622 Metern im Boden. Der Schacht ins Licht hatte am anderen Ende einen Schutzraum erreicht - 33 Tage nach Beginn dieser Aktion, die am Mittwoch in die wohl 33 spektakulärsten Aufzugfahrten der Geschichte münden soll.
In ihrem Verlies sangen die Kumpel die Nationalhymne, als der Durchbruch geschafft war. Danach legten sie kleine Sprengladungen, um die finale Öffnung für die Rettungskapsel zu erweitern. "Wir sehen uns bald", schickte drunten einer an die Oberfläche. "Wir hoffen, dass sie am Freitag draußen sind", sagte am Abend droben der rot gekleidete Bergbauminister Laurence Golborne vor Hunderten Reportern. Seit Sonntag werden die ersten 96 Meter des senkrechten Tunnels mit Stahlröhren gesichert. Dann lassen voraussichtlich zur Wochenmitte Kräne diesen eigens konstruierten Fahrstuhl namens Fénix hinab. Damit beginnt der entscheidende Teil der Operation San Lorenzo. Aber erst mal wurde gefeiert, denn dies war das erfreulichste Wochenende seit den ersten Lebenszeichen am 23. August, zwei Wochen nach dem Grubenunfall vom 5. August.
Die Glocke beim Bohrturm wurde geläutet, bald begann halb Chile zu hupen. Auch ein paar Sektkorken flogen. Mit einem Schlag löste sich die Stimmung in dem Lager La Esperanza, die Hoffnung. Unter den Familien, Ingenieuren, Journalisten, Clowns, Polizisten brach Jubel aus. "Der schönste Tag in meinem Leben", verkündete in dem Gewühl María Segóvia, eine von 13 Geschwistern von Darío Segóvia, sie trägt im Camp den Namen La Alcaldesa, die Bürgermeisterin. Die Frauen, Kinder und Geschwister liefen zum kahlen Hügel mit den 33 chilenischen Flaggen, für jeden der Kellerbewohner eine. "Fuerza, Mineros", steht dort und auf Tausenden Plakaten, "bleibt stark, Minenleute."
Viele der Angehörigen und Beobachter hatten an diesem Morgen vielleicht erstmals einen Blick für die Schönheit dieses unwirklichen Ortes in der Atacama-Wüste. Es ist, als befände man sich auf dem Mond, auf den die Sonne brennt, ehe sie hinter den scharfen Bergrücken verschwindet. Das Drama in der trockenen, klaren und manchmal staubigen Luft, es könnte nach all den heißen Tagen und kalten Nächten tatsächlich gut ausgehen. Der Bergbauminister versprach, dass es bald losgehe. Der Gesundheitsminister versicherte, dass alle Männer wohlauf seien, einer leidet unter Diabetes. Die Präsidentengattin meldete eine "gigantische Emotion". Der Präsident Sebastián Piñera sprach mit weißem Hemd und roter Krawatte vor dem Palast La Moneda in der Hauptstadt Santiago zur Nation: "Was wie eine mögliche Tragödie angefangen hat, das endet wie ein wahrer Segen."
Auch die linke Opposition gratuliert dem liberalkonservativen Staatschef, dies ist eine patriotische Angelegenheit. Und der bolivianische Kollege Evo Morales will anreisen, unter den Gefangenen der Unterwelt ist nämlich auch ein Landsmann von ihm. Noch kann zwar vieles schiefgehen. Die mehr als 600 Meter weite Reise in dem zigarrenähnlichen Käfig wird pro Person bis zu einer Stunde dauern, inklusive von vier Helfern stehen sogar vier Abfahrten und 37 Auffahrten bevor. Die Geschicktesten sollen zuerst einsteigen, dann die Geschwächten, dann die Stärksten. Das Ding kann sich verhaken, ein Passagier kann trotz Trainings, Spezialanzugs, Sprechfunks und Belüftung kollabieren. Den genauen Ablauf mag bei allen Berechnungen und Generalproben niemand vorauszusagen. Aber das Vertrauen in die Technik ist groß. Das haben nicht zuletzt die zuvor weniger bekannten Helden dieser Geschichte geschafft.
Die Techniker der Firma Geotec wurden gefeiert wie Erlöser. Als sie den Bohrer Schramm T-130 durch die Anlage fuhren, da war es wie eine Siegesparade. "Cumplimos", hatte jemand auf den Laster geschrieben, "wir haben Wort gehalten." Die Firma verteilte weiße T-Shirts an die Verwandten der Mineros, darauf steht Geotec, Schramm T-130 und die Zahl 33. Und bald erfuhr man, wer die letzten Drehungen überwacht hatte: Es war ein rotbärtiger Amerikaner. Jeff Hart aus Denver, Colorado. Er bohrte zuvor in Afghanistan nach Wasser für die US-Army und weiß nun, dass die Suche nach Menschen viel schöner ist.