Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach:Der Fall, der das Erdbeben auslöste

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Der Angeklagte im Prozess wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern wird von einem Justizbeamten in den Kölner Gerichtssaal geführt, während er sich eine Mappe vor das Gesicht hält. (Archivbild) (Foto: Oliver Berg/dpa)

Durch eine Hausdurchsuchung bei Jörg L. stießen Ermittler auf das bislang größte pädokriminelle Netzwerk in Deutschland. Nun muss der 43-Jährige für lange Zeit ins Gefängnis.

Von Jana Stegemann, Köln

Mehr als zwei Stunden begründet der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann sein Urteil im größten Saal 210 des Landgerichts Köln. Mehr als zwei Stunden sitzt Jörg L. auf der Anklagebank und blickt unbewegt den Richter an. Mehr als zwei Stunden trägt er seine wattierte Jacke, als wäre er auf dem Sprung. Der 43-Jährige wird die nächsten zwölf Jahre im Gefängnis verbringen, für die Zeit danach wurde Sicherungsverwahrung angeordnet. "Jawohl!" ruft eine Frau aus dem Zuschauerraum.

"Sie haben sich als Meister im Führen eines Doppellebens bewiesen", sagt der Richter zu dem Mann mit der Glatze und dem auffälligen Ziegenbart. "Sie sind hier von vielen Zeugen als liebevoller Ehemann, als guter Vater beschrieben worden, waren aktiv im Elternbeirat des Kindergartens ihrer Tochter, waren ein guter Bruder, ein guter Nachbar, ihr Chef hat Sie als `mein bester Mann´gelobt." Jetzt nimmt sich Richter Kaufmann ein Lutschbonbon, spricht ohne Unterbrechung weiter, wird lauter: "Sie haben sich ein Leben aufgebaut das keine Fassade war. Sie hatten Liebe, Sie hatten Sex, Sie hatten Freundschaft, Sie hatten ein schönes Häuschen, Sie hatten soziale Anerkennung, Sie hatten ein Leben, auf das Sie hätten stolz sein können."

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Einmal übertrug er eine Vergewaltigung des Mädchens live

Und doch baute sich Jörg L. über die Jahre auch eine zweite Welt auf, einen Abgrund, "eine Missbrauchsideologie, in der Sie glaubten einvernehmlich Sex mit dem eigenen Kind haben zu können, Ihre kleine Tochter zu Ihrem Sexualobjekt erziehen wollten", sagt Richter Kaufmann. Als "Streifzug durch das gesamte Sexualstrafrecht hinsichtlich Taten gegen Kinder", bezeichnet der erfahrene Richter die langjährigen Verbrechen des Mannes aus Bergisch Gladbach.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass L. ab dem Moment, an dem seine Tochter im Alter von 15 Monaten laufen lernte, sie regelmäßig schwer sexuell missbrauchte. Meistens morgens, wenn die Mutter des Mädchens auf dem Weg zur Arbeit war. Die meisten seiner Taten dokumentierte L. mit seinem Smartphone, die Bilder und Videos schickte er an gleichgesinnte Chatpartner. Einmal übertrug er eine Vergewaltigung des Mädchens live. Mit einem bereits verurteilten Mann verabredete sich L. in 2019 auch immer häufiger zu gemeinsamen Missbrauch. Zu den Treffen brachte beide ihre kleinen Töchter mit.

Mit der Hausdurchsuchung bei Jörg L. in Bergisch Gladbach war im Oktober 2019 das größte bisher bekannte Missbrauchsnetzwerk Deutschlands, der Fall Bergisch Gladbach, aufgeflogen.

Der gelernte Koch und Hotelfachmann L., der die vergangenen 13 Jahre als Pförtner in einem Krankenhaus arbeitete, gilt als zentrale Figur des pädokriminellen Netzwerks, weil bei ihm unzählige digitale Kontakte zu anderen Männern gefunden wurden. Es war allerdings reiner Zufall, dass die europaweiten Ermittlungen durch L. anfingen. Richter Kaufmann sagt: "Den Effekt, den diese Ermittlungen auf die Szene hatten, kann man wohl mit einem Erdbeben vergleichen."

Sexueller Missbrauch zieht sich durch die Biografie von Jörg L.

Mehr als 100 Tatverdächtige sind bereits deutschlandweit identifiziert, die Justiz hat erste Urteile gefällt, mehr als 50 Kinder wurden schon gerettet. Doch noch immer stehen die Ermittler und Ermittlerinnen vor 30 000 Spuren zu Tätern, Opfern und Tatorten. Es ist ein Verfahren von einer noch nie dagewesenen Dimension in Deutschland, die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des Falls könnte Jahrzehnte dauern. Und klar ist: Alle Täter und alle Opfer wird die Polizei nie finden.

Neun Prozesstage lang versuchte das Gericht ein umfassendes Bild von Jörg L. zu bekommen - die meiste Zeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Um die heute dreijährige Tochter zu schützen. Sexueller Missbrauch zieht sich schon immer durch die Biografie von Jörg L.: Seine Mutter wurde in ihrer Kindheit missbraucht, er selbst gab vor Gericht an sexuelle Gewalt durch einen Nachbarsjungen erfahren zu haben; als 16-Jähriger missbrauchte L. seine damals neunjährige Cousine. Diese Taten sind verjährt, doch die Frau sagte mehrere Stunden vor Gericht aus.

Seiner Ehefrau und Tochter will Jörg L. nun das Haus in Bergisch Gladbach überschreiben, 50 000 Euro auf ein Konto für sie einzahlen. Richter Kaufmann sagt: "Was die Taten im Gehirn und Körper ihrer kleinen Tochter ausgelöst haben, wissen wir nicht. Wir haben aber gehört, dass sich ihre Tochter bislang sehr gut entwickelt. Bis auf den fürchterlichen Umstand, dass Sie Bilder und Videos Ihres Missbrauchs unzähligen unbekannten Männern im Internet geschickt haben und dass diese dort unkontrolliert für immer herumschwirren werden. Irgendwann wird Ihre Tochter davon erfahren."

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