Nachts entfaltet sich die ganze Magie von Las Vegas. Dann lassen die Hotels ihre Leuchtreklamen erstrahlen, alles funkelt und glitzert und blinkt. Die Menschen, die sich tagsüber vor der Hitze in den riesigen Hotelkomplexen und ihren Casinos versteckt haben, wagen sich nach draußen. Im Bellagio vollzieht der Springbrunnen seine berühmte Choreografie zu klassischer Musik, während weiter südlich, gegenüber des Mandalay-Bay-Hotels und unweit des Luxor, auf einer großen Freifläche Veranstaltungen stattfinden. So wie am vergangenen Wochenende das "Route 91 Harvest"-Festival.
Drei Tage dauerte das Country-Spektakel, es war ausverkauft, wie in jedem Jahr. Zum Abschluss hatten die Veranstalter den Sänger Jason Aldean geladen, es sollte ein letzter Höhepunkt des Festivals werden. Doch dann, der 40-Jährige singt gerade seinen Hit "When She Says Baby", fallen die ersten Schüsse. Es ist etwa 22 Uhr. Augenzeugen, die sich in der Nähe des Hotels befinden, werden später berichten, sie hätten Glas splittern hören. Die Fenster der Hotel-Hochhäuser in Las Vegas lassen sich nicht öffnen. Der Schütze, der sich in einem Zimmer im 32. Stock des Mandalay-Bay-Hotels positioniert hat, bringt die Scheiben wohl mit einem Hammer zum Bersten. Dann beginnt er, Salve um Salve auf die Menschen abzugeben, die gut 400 Meter entfernt das Konzert verfolgen.
Was unten geschieht, halten Dutzende Menschen in Handyvideos fest. Über die sozialen Netzwerke kann bald die ganze Welt teilhaben an dem Horror, den die Festivalbesucher erleiden. Wie sie sich auf den Boden ducken und ungläubig in die Luft schauen. Viele berichten, sie hätten die lauten Knallgeräusche zunächst für Feuerwerk gehalten. Dann jagen die nächsten Schüsse durch die Nacht, rattatatatat, Menschen schreien in Panik.
Die Kommentare in den Videos lassen erkennen, dass jetzt erst vielen klar wird, was vorher unvorstellbar schien: dass jemand in die Menschenmenge schießt, von oben herunter. Und dass ein Entkommen kaum möglich ist.
Hunderte Menschen werden in den kommenden Stunden in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert, die Zahl der Toten immer weiter nach oben korrigiert. Am Abend, in Deutschland istes mittlerweile spät in der Nacht, tritt Sheriff Joseph Lombardo einmal mehr vor die Mikrophone der Journalisten. Er spricht von 59 Toten und 527 Verletzten. Ein gutes Dutzend Menschen sind nach Angaben einer Krankenhaus-Sprecherin noch in einem kritischen Zustand. Damit ist ein trauriger Rekord Gewissheit: Es ist das größte Massaker, das in der Geschichte der USA von einem Einzeltäter mit Schusswaffen begangen wurde.
Ein ganz normaler Mann, der gern Burritos gegessen habe
Über den Täter werden erste Informationen bekannt: Nach Angaben der Polizei war er bereits tot, als ein SWAT-Team die Tür zu seinem Hotelzimmer aufsprengt. Er soll sich selbst getötet haben. Auch den Namen veröffentlicht die Polizei: Stephen Paddock, 64, zuletzt wohnhaft in Mesquite, einer 18 000-Einwohner-Stadt im Nordosten von Las Vegas.
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Über sein Motiv lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal spekulieren. Er soll ein professioneller Spieler gewesen sein. Geriet aber nie wegen einer Gewalttat mit dem Gesetz in Konflikt. In seiner Polizeiakte gibt es einen einzigen Eintrag - wegen eines Verkehrsdelikts vor ein paar Jahren. Paddocks Familie, die größtenteils in Florida wohnt, reagiert geschockt auf die Tat, die er begangen haben soll. Sein Bruder gibt mehreren amerikanischen Medien Interviews. "Es war, als wäre ein Asteroid auf uns heruntergefallen", sagt er. Stephen Paddock sei ein ganz normaler Mann, der gern Burritos gegessen habe.
Am Nachmittag deutscher Zeit reklamiert die Nachrichtenagentur des sogenannten Islamischen Staates die Tat für die Terrormiliz. Der Amerikaner sei ihr "Soldat" gewesen, heißt es. Doch dafür gibt es nach bisherigem Ermittlungsstand offenbar keinerlei Hinweise. Sheriff Lombardo bezeichnet Paddock als "einsamen Wolf". Auch das FBI meldet später, es habe keinerlei Anhaltspunkte gegeben für eine Verbindung des 64-Jährigen zu einer internationalen Terrororganisation.
Das Haus in Mesquite wurde bereits durchsucht. Die Zwei-Zimmer-Suite im 32. Stock des Mandalay-Bay-Hotels ebenfalls. In Mesquite haben die Ermittler 19 Waffen gefunden, in seinem Hotelzimmer 23 weitere, erklärte die Polizei in Las Vegas. Automatische Langwaffen vor allem. Auch Maschinengewehre. Dazu tausende Schuss Munition. Außerdem wurde sein Auto gefunden, darin: eine große Menge Ammoniumnitrat. Ein Stoff, der sich zusammen mit hochentzündlichen Flüssigkeiten wie etwa Benzin zum Bau von einfachen Bomben eignet.
Der Schütze hat seine Zimmer in dem Hotel bereits vier Tage vor der Tat am Donnerstag vergangener Woche bezogen. Und offenbar bewusst ausgewählt. Es ist ein Eckzimmer. Er hat so aus zwei verschiedenen Fenstern und damit Winkeln auf die Menge feuern können. Statt die Waffen jeweils nachzuladen, hat er einfach zur nächsten Waffe gegriffen, wenn ein Magazin leergeschossen war. Die Waffen sollen auch auf Stative geschraubt gewesen sein.
Sein Motiv ist nach wie vor völlig unklar. In Mesquite lebte er in einem Wohn-Ressort für Senioren, die dort Sicherheit und Ruhe suchen. Bewohner sagen, der Täter sei nicht sonderlich freundlich gewesen. Ein Polizist, der in Paddocks Haus war, berichtet, es sei ein "schönes, sauberes Haus". Es gebe dort nichts Außergewöhnliches. Außer den Waffen natürlich. Nur eines sticht heraus. Sein Vater gehörte einst zu den meistgesuchten Männern in den USA. Er war ein notorischer Bankräuber und starb 1998.
Die Polizei hofft, dass Paddocks mutmaßliche Freundin weitere Informationen liefert. Sie hat mit ihm zusammen in Mesquite gelebt. Nach Angaben des Sherrifs hält sie sich allerdings derzeit in der japanischen Hauptstadt Tokio auf. An der Tat war sie wohl nicht direkt beteiligt.
In der Nacht entfaltet Las Vegas seine Magie - normalerweise. In der vergangenen Nacht war da nur Horror. Die Stadt und die Menschen, die ihn erleben mussten, werden ihn wohl nicht mehr vergessen. Egal, in welchen Abgrund die Ermittler am Ende schauen müssen: Schon jetzt steht fest, dass diese Tat das Land verändern wird.