"Berge sind normalerweise aus Stein und kommen nicht ins Rutschen", sagt Zemed Derlib, "unsere Berge sind hingegen aus Dreck, Müll und Asche." Und die Berge kamen ins Rutschen, erst brummte es ein wenig, dann gab es so etwas wie einen Knall, und dann waren sieben Verwandte von Zemed unter einem riesigen Berg von Müll begraben. Vier Tage lang haben sie die Mutter und die Brüder und die Cousins gesucht. Sie haben gesehen, wie die Überlebenden sich um die Toten gestritten haben, die nicht mehr zu erkennen waren. Sie haben die Mutter dann doch noch erkannt an ihrem Kreuz um den Hals. "Sie war mein Leben", sagt Zemed, die Tochter, sieben Tage nachdem der Berg zu Tale kam und ihr die Familie nahm. Wahrscheinlich 150 Menschen kamen vor einer Woche auf einer Müllkippe in Addis Abeba ums Leben, noch immer wird nach Opfern gesucht.
Zemed Derlib, 29, sitzt in einem kleinen Raum mit einem Dutzend schwarz verhüllter Frauen, die gerahmte Bilder der Toten herumreichen. Durch die Tür sieht man die Berge von Koshe, Riesen aus Müll, die steil in den Himmel steigen, etwa 120 Meter hoch. Seit 50 Jahren wird hier der Müll von Addis Abeba abgeladen, einer Stadt, die in dieser Zeit ihre Bevölkerung mindestens vervierfacht hat, auf mehr als vier Millionen, vielleicht sind es auch sieben, die immer mehr Müll produzieren.
"One's trash is another man's fortune", sagen die Menschen in Äthiopien. Die Müllkippe, sie ist kein dunkler Ort der Hoffnungslosigkeit, nicht nur. Auf den Anhöhen der rauchenden Berge stehen kleine Verschläge aus Plastik oder Holz, die gerade von den Behörden demoliert werden, damit die Bewohner nicht zurückkehren. Obwohl die meisten nie freiwillig gekommen sind an diesen Ort: Viele flohen vor den hohen Mieten der boomenden Stadt, deren Baustellen keiner mehr zählen kann.
Aber selbst im Müll liegt eine Chance, sagt Zemed. Ihre Mutter ist seit Jahrzehnten auf die Berge gestiegen und hat gesammelt, was aus den Luxushotels und besseren Gebieten herangefahren wurde. Sie hat sich und ihren Kindern ein Haus gemietet, mit einer kleinen Außenmauer aus Beton. Und sie hat ihre Kinder in die Schule geschickt und dann an die Universität. Von der Müllkippe an die Hochschule, es war ein ziemlich weiter Weg. In ein paar Monaten wollte Zemed ihr Examen feiern. Nun muss sie die Beerdigung organisieren und ein neues Leben.
Das alte liegt unter dem Müll begraben. In den engen Gassen am Fuße der Berge haben die Bewohner Zelte aufgestellt, Nachbarn und Bürger aus der ganzen Stadt bringen Kleider vorbei und Essen. Am Freitag ist der Präsident da gewesen mit dem Bürgermeister, sie haben Hilfe versprochen und Aufklärung. "So ist das doch immer, aber in ein paar Wochen sind wir auch wieder vergessen", sagt Zemed.
Die Welt hat ohnehin kaum Notiz genommen von diesem Unglück, die Hilfsorganisationen haben nicht zu Spenden aufgerufen, vielleicht kann man mit hungernden Kindern leichter um Spenden werben als mit Bildern voller Müll. In Äthiopien wurden die Flaggen drei Tage auf Halbmast gesetzt, die Zeitungen schreiben recht kritisch, obwohl noch der Ausnahmezustand herrscht und nach den Unruhen des vergangenen Herbstes immer noch viele Oppositionelle in Gefängnissen sitzen. Die Zeitung The Reporter erinnerte daran, dass nach der äthiopischen Verfassung jedem Bürger ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zustehe. Das Unglück sei die Folge "grober Vernachlässigung seitens der Behörden".
Ein Rettungsarbeiter hält ein Foto von drei Kindern, die vermutlich in den Müllbergen von Koshe am Rande von Addis Abeba verschüttet wurden.
Das Unglück auf der Müllkippe passierte vor einer Woche - die Bergungsarbeiten allerdings sind noch immer nicht abgeschlossen.
Ein riesiger Erdrutsch aus Müll begrub am 12. März die Bewohner unter sich.
Anwohnerinnen beobachten die Bergungsarbeiten und schützen ihre Nasen vor dem Gestank des Abfalls.
Einige versuchen, ihre wenigen Habseligkeiten aus den zerstörten Holz- und Wellblechverschlägen zu retten,...
...andere bergen nach und nach die Toten.
Vor einer Kirche in Addis Abeba versammeln sich Trauernde zum Gottesdienst.
Eine Frau hält ein Foto ihrer Verwandten hoch. Noch sind nicht alle Vermissten geborgen. Wahrscheinlich kamen 150 Menschen ums Leben.
Viele Anwohner flohen vor den hohen Mieten in der Stadt zur Müllkippe.
Die Suche nach den verschütteten Opfern dauert an.
Äthiopien steht nun als ein Land da, in dem so etwas passiert. Dabei hatte die Verwaltung schon vor Jahren eingesehen, dass die Müllhalde in Koshe zu klein geworden war, und ein ambitioniertes neues Abfallkonzept in Auftrag gegeben. In Sendafa außerhalb der Hauptstadt wurde mit Krediten und Firmen aus Frankreich eine neue Halde gebaut. Sie wurde im vergangenen Jahr in Betrieb genommen und ein paar Monate später wieder geschlossen, als auch dort die Volksgruppe der Oromo auf die Barrikaden ging, um gegen die Vorherrschaft der Tigray zu protestieren. Die sind zahlenmäßig in der Minderheit, beherrschen aber Wirtschaft und Verwaltung. Die Oromo blockierten die Müllkippe, die auf ihrem Land gebaut wurde, gegen angeblich zu geringe Entschädigung. Also wurde der Müll wieder nach Addis Abeba gekarrt, die Berge wuchsen weiter vor dem Haus von Zemed und ihrer Familie, die nicht mehr dieselbe ist. "Fünf Tage haben wir geschrien, jetzt wollen wir Antworten." Sie sagt, vor dem Unglück sei am Fuße des Müllbergs eine Straße gebaut worden, Bohrmaschinen hätten Löcher in die Erde getrieben, der Boden vibrierte.
Die Straße soll zu einer neuen Biogasanlage führen, die hinter den Müllbergen steht und einmal ein Drittel des Stromverbrauchs der Hauptstadt liefern sollte. Es sah nach einer leuchtenden Zukunft aus. Jetzt ist Addis Abeba aus dem Licht in die Dunkelheit zurückgeworfen worden. Vor der Müllhalde tragen die Menschen Trauer, die Frauen dunkle Schleier, die Männer schwarze T-Shirts mit einer Kerze darauf. Die Hinterbliebenen haben die Fotos ihrer Liebsten auf große Plakate drucken lassen, die nun an den Straßen hängen. Es sind Väter, Mütter, Töchter, Söhne.
In Europa tauchen nach unvorstellbaren Katastrophen immer die Schilder mit dem "Warum?" auf. In Addis Abeba braucht man die Frage gar nicht zu stellen. Man sieht sie in den Gesichtern, man hört sie in den Gesprächen. "Ich habe Journalismus studiert, um genau so etwas aufzuklären", sagt Zemed. Dann fragt sie, ob man etwas haben möchte von dem Trauermahl.