Zwangsehen in Deutschland:"Der neuen Familie völlig ausgeliefert"

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Unterdrückt, hilflos und alleingelassen. Die Rechtsanwältin Filiz Sütçü spricht über Frauen auf der Flucht aus der Zwangsehe.

M. Maier-Albang

Sie stammt selbst aus einer türkischen Familie, ist in Dachau aufgewachsen und hat Jura studiert. Heute arbeitet Filiz Sütçü in München als Rechtsanwältin; sie vertritt Frauen und Männer, die zwangsverheiratet wurden oder in arrangierten Ehen leben und sich scheiden lassen wollen. Jetzt hat sie ihre Dissertation geschrieben - auf der Basis von 149 Scheidungsfälle, von denen 133 arrangierte Eheschließungen waren.

Sechs bis acht Jahre - so lange dauert im Schnitt der Leidensweg, bevor zwangsverheiratete Frauen bei der Münchner Rechtsanwältin Filiz Sütçü juristischen Beistand suchen. (Foto: Foto: Catherina Hess)

SZ: Gibt es verlässliche Zahlen, wie viele zwangsverheiratete Frauen in München leben?

Sütçü: Die gibt es bislang nicht, weder für München noch für Deutschland. Das Bundesfamilienministerium hat eine Studie in Auftrag gegeben, die Einrichtungen abgefragt, die mit Betroffenen zu tun haben. Aber ob man damit die Dunkelziffer erfassen kann, ist fraglich. Wir werden auch nicht erfahren, wie viele Frauen und Männer in arrangierten Ehen gut zurechtkommen, die dort glücklich leben, weil der Zufall es halt will. In meine Praxis kommen ja nur die, deren Ehe gescheitert ist.

SZ: Was ist der Unterschied zwischen arrangierter Ehe und Zwangsehe?

Sütçü: Wenn eine Ehe geschlossen wird gegen den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Tochter - unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, sprechen wir von einer Zwangsehe. Wobei der psychische Druck meist eine noch größere Rolle spielt: Wenn du nicht tust, was wir wollen, nehmen wir dich von der Schule, bist du nicht mehr unsere Tochter, verstoßen wir dich. In einer arrangierten Ehe suchen Eltern für sie oder für ihn den Partner aus, und der Betroffene kann noch ein Wörtchen mitreden - in der Theorie zumindest. In der Praxis ist die Abgrenzung nicht so einfach. Wenn eine Frau sehr jung ist oder wenn sie mit einem Cousin verheiratet wird, ist der Zwang zwar nach außen hin nicht wahrnehmbar, aber der Druck auf die Frau dennoch sehr groß.

SZ: Wie reagieren die Ehemänner, wenn die Frauen sich scheiden lassen wollen?

Sütçü: Wenn schon eine lange Leidensgeschichte vorangegangen ist, sehen die Männer manchmal ein, dass es keinen Sinn hat. Die meisten Männer aber widersetzen sich. Oft werden dann beide Familien eingeschaltet, um die Frau zu beeinflussen. Gerade wenn Kinder da sind, wird gedroht, dass man die Kinder wegnimmt. Frauen, die noch nicht so lange in Deutschland leben, werden hier auch gezielt manipuliert, um ihre Ängste, abgeschoben zu werden, zu verstärken.

SZ: Holen die Familien für ihre Söhne vor allem Frauen aus der Türkei nach Deutschland oder werden sie mit einer Frau verheiratet, der hier aufgewachsen ist?

Sütçü: Beides hält sich die Waage. Und es kommen zudem junge Frauen zu mir, deren Familie in dritter Generation in Deutschland lebt und für die ein Partner aus der Türkei geholt wurde. Wobei die Situation der Frauen, die nach Deutschland geholt wurden, am schwierigsten ist. Sie können die Sprache nicht, werden aus ihrer Heimat herausgerissen und hier in eine neue Familie gepflanzt. Oft müssen sie sogar mit ihr in derselben Wohnung, im selben Haus leben. Sie haben keine Sozialkontakte, keine Ausbildung - sie sind der neuen Familie völlig ausgeliefert.

SZ: Wie können Sie helfen?

Sütçü: Ich versuche, das ganze rechtliche Instrumentarium zu Sorgerecht und Unterhalt erst einmal zu erklären. Die Frauen können ja für eine gewisse Zeit finanzielle Hilfe erhalten und auch ohne den Mann überleben. Meist muss ich sie aber erst einmal aufklären, dass sie ein Recht auf Scheidung haben und dass nicht nur der Mann sich scheiden lassen darf. Die Frauen wissen oft auch nicht, dass sie die Kinder behalten dürfen, wenn sie Sozialleistungen beziehen. Wie die Frau sich entscheidet, hängt aber letztlich auch davon ab, wie stark ihre Persönlichkeit ist, wie viel sie sich traut. Sie hatte ja vorher nie ein eigenständiges Leben, wurde von einer Familie in die nächste übergeben - da kann einem die Aussicht, allein dazustehen, schon Angst machen. Oft sind es Nachbarn, die die Frau letztlich so weit stützen, dass sie sich zur Scheidung durchringt.

SZ: Gehen Frauen zurück in die Türkei?

Sütçü: Nur etwa 20 Prozent, denn das ist ein Spießrutenlaufen. Eine geschiedene Frau ist in den traditionellen Familien dazu verdammt, entweder bei den Eltern zu leben, also zurück ins "Gefängnis" zu gehen. Oder sie wird sofort wieder verheiratet. Das passiert aber übrigens Männern genauso.

SZ: Sind die Familien, die Ehen arrangieren, besonders religiös?

Sütçü: Traditionsbewusst trifft es wohl eher. Wobei diese Familien für sich schon in Anspruch nehmen, dem Islam zugewandt zu leben. Aber wenn ich mit den Frauen rede, warum die Ehe arrangiert wurde, wird nur gesagt: Das war bei uns schon immer so! Die Mütter, die ja selbst auch verheiratet wurden, geben es weiter an ihre Kinder, erstaunlicherweise selbst noch in der dritten Generation. Und es ist sicher noch ein langer Weg, bis sich in den Köpfen etwas ändert.

SZ: Wie geht es den Männern in arrangierten Ehen?

Sütçü: Hier pflegt die türkische Gesellschaft eine Doppelmoral. Männer dürfen voreheliche sexuelle Erfahrungen sammeln, sie gehen nicht jungfräulich in die Ehe, wie es von der späteren Ehefrau erwartet wird. Die - oft deutsche - Freundin des Sohnes hat daher in einer türkischen Familie keinen guten Stand. Sie ist 'die Frau' (kadin). Das würde man zur eigenen unverheirateten Tochter nie sagen. Das ist 'das Mädchen' (kiz). Wenn Männer den Wunsch der Eltern akzeptieren und in eine arrangierte Ehe gehen, behalten sie allerdings nicht selten ihre frühere Freundin. Oder sie leben nach wie vor, als wären sie Single: Sie gehen am Wochenende mit ihren Freunden aus, haben Beziehungen, manchmal außereheliche Kinder. Die Frau hat aber nicht die Wahl zu sagen: Ich will nicht Zweitfrau sein. Von ihr wird erwartet, dass sie Mutter der Kinder ist, den Haushalt macht, am besten noch die Schwiegereltern versorgt. Und dabei hat sie einen Mann, der nicht sie liebt, sondern die andere. Er lebt aber in einer fast schon schizophrenen Situation, die dann oft mit Gewalt ausgetragen wird.

SZ: Wie lange halten Frauen das aus, bis sie zu Ihnen kommen?

Sütçü: Ihr Leidensweg dauert im Schnitt sechs bis acht Jahre. Es gibt aber auch Frauen, die schon 25 Jahre verheiratet sind und sich nun erst trauen, sich juristischen Beistand zu holen. Wobei gerade sie es schon oft aushalten müssen, dass die Familie mit Fingern auf sie zeigt. Ich rate ihnen dann immer, ganz neu anzufangen - am besten in einem anderen Stadtteil.

Filiz Sütçü spricht am 29. Oktober (19Uhr) über Prävention und Hilfe für von Zwangsheirat betroffene Jugendliche. Die Podiumsdiskussion findet im Rahmen der Ausstellung "Verbrechen im Namen der Ehre" statt, die Terre des Femmes im Neuperlacher Heinrich-Heine-Gymnasium initiiert hat.

© SZ vom 26.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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