Tölzer Filmschatz gehoben:Zeitreise mit Sprengkraft

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Der Tölzer Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr stößt durch Zufall auf alte Filmrollen aus den 1920er und 1930er Jahren. Die Fundstücke aus gefährlicher Nitrozellulose sind nun digitalisiert und gewähren einen raren Einblick in eine bewegte Zeit des Wandels und Umbruchs.

Von Claudia Koestler

Herrn Müller aus Cöln geht es gar nicht gut. Sein Blutdruck liegt bei 170, sein Arzt warnt ihn vor den Folgen, die das haben kann. Der Grund? "Der aufreibende Existenzkampf der heutigen Zeit verursacht frühzeitigen Nervenverbrauch und Altern", stellt der Doktor fest. Doch zum Glück hat der Mediziner auch gleich eine Therapie in petto: eine Jodkur, und zwar in Bad Tölz. Und weil Martin Müller auf den Rat seines Arztes hört, schnürt er sogleich sein Ränzlein, packt das Töchterlein und fährt mit ihr ins größte Kurbad in den bayerischen Alpen.

Stress, Nervenbelastungen, Alterserscheinungen - Themen, die allgegenwärtig sind. Heute genauso wie offenbar vor 100 Jahren. Denn die eingangs beschriebene Szene stammt aus einem Werbefilm mit dem Titel "Besiegtes Altern", der vor mehr als 90 Jahren, im Jahre 1928 um genau zu sein, Touristen und ähnlich Kranke wie Martin Müller aus dem ganzen Land nach Tölz locken sollte. Und fast genauso lang war dieser Film in Vergessenheit geraten, bis er durch Zufall vom Tölzer Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr wiederentdeckt wurde - zusammen mit weiteren Filmausschnitten aus den 1920er und 1930er Jahren, die in der Stadt gedreht worden waren. Als diese nun kürzlich zum ersten Mal seit ihrer Wiederentdeckung öffentlich gezeigt wurden, waren der Andrang und das Interesse enorm. So viele Tölzer wollten mit den bewegten Bildern einen Blick zurück auf die Stadt und das damalige Leben werfen, dass das Kino wegen Überfüllung zahlreiche Gäste abweisen musste. Die gute Nachricht aber: Es soll eine Wiederholung geben. Nur wann, steht noch nicht fest.

Wer das Glück hatte, einen Sitzplatz zu ergattern, konnte sich auf eine erstaunliche Zeitreise machen. Doch nicht nur die Stummfilmstreifen - musikalisch wunderbar untermalt von Peter Zoelch und Matthias Karpf - erzählen Spannendes, auch die Geschichte ihrer Entdeckung klingt abenteuerlich. 2011 öffnete Lindmeyr einige alte Schränke in einer Kammer der Stadtbibliothek, wo Diverses aus dem Archiv gelagert war, dessen Umzug anstand. Darin fand er Blechdosen, nur einige wenige von ihnen waren beschriftet. Darin: Filmrollen, noch nicht einmal auf Zelluloid, sondern auf dem Vorgängermaterial, nämlich Nitrozellulose, auch Schießbaumwolle genannt. "Die damals bekannten Kunststoffe waren allesamt zu spröde für Filmrollen, aber diese Nitrozellulose hatte wirklich ihre Tücken", weiß Lindmeyr. Nicht nur der Kinostreifen "Cinema Paradiso" zeige einen blinden Filmvorführer. "Es kam tatsächlich vor, dass sie ihr Augenlicht oder ihr Leben verloren, und auch Kinos sind nicht selten abgebrannt."

Bilder aus historischen Filmen
:Tourismus-Werbung und Ereignisse

Screenshots geben einen Einblick, was die kürzlich wiederentdeckten, historischen Filme aus dem Tölzer Stadtarchiv zeigen.

Von Claudia Koestler

Die Filmrollen, die heute unter das Waffengesetz fallen, weil sie jederzeit tatsächlich explodieren können, sind inzwischen in einem geschützten Raum im Berliner Bundesarchiv für Film untergebracht. Inzwischen kann Lindmeyr über den explosiven Fund scherzen: Gut sei es, dass die Originale nun sicher verwahrt sind, "sonst hätte ich ja nicht mehr in Ruhe im Büro schlafen können", sagt er und lacht. Für die Digitalisierung der Rollen habe es nur eine einzige Chance gegeben. Weil es kaum mehr Spezialisten und Geräte gibt, die das können, und weil das brüchige Material dabei erheblich leidet. Das aber gelang, und so hat die Stadt nun den Inhalt sicher und digital vorliegen, den Lindmeyr kürzlich der Öffentlichkeit präsentierte.

Die Stummfilme zeigen Bad Tölz zwischen 1925 und 1935. Film habe zwar schon früher zur Verfügung gestanden, doch in den 1920er Jahren sei er richtig populär geworden. Tölz habe ganz auf dieses Medium gesetzt, "denn der Weltkrieg hat den Tourismus in der Stadt so ziemlich zum Erliegen gebracht", sagt Lindmeyr. Rund eine halbe Stunde lang ist der Werbefilm "Besiegtes Altern" für den Kur-Tourismus. Produziert hat ihn die Firma Emelka aus München, die damals unter anderem auch die Wochenschau produzierte und ein Konkurrent der UFA war.

Im Mittelpunkt steht Martin Müller aus Cöln, für den sein Arzt keine guten Nachrichten hat. In Trickdarstellung werden Müller und dem Zuschauer erst die Problematik eines hohen Blutdrucks und dann die Wirkungsweise von Jod erklärt. Unter den Jodquellen sei jene bei Bad Tölz die reinste und beste, weshalb Müller dem Rat des Mediziners folgt. In Tölz am Bahnhof samt Tochter angekommen, wird er von einem Kutscher abgeholt und durch die damals schon malerische Marktstraße und über die Isar zu seinem Hotel im Badeteil gefahren. Der Kurarzt verordnet ihm eine Trinkkur und reichlich Bewegung in der damals noch hölzernen Wandelhalle und im Kurpark.

Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr. (Foto: Manfred Neubauer)

Vier Wochen später gratuliert der Kurarzt, "jetzt können Sie den Blomberg besteigen", lässt ein eingeblendeter Text den Arzt sagen. "Ohne Angst vor Kitsch", wie Lindmeyr sagt, wird der Aufstieg als Finale gezeigt, samt feucht-fröhlicher Jause von Vater, Tochter und deren Kurschatten inmitten von musizierenden und schuhplattelnden Einheimischen.

Die weiteren Filme sind kurze Ausschnitte von gesellschaftlichen Ereignissen. Sie zeigen unter anderem die Tölzer Leonhardifahrt anno 1927, die damals bereits eine erstaunliche Massenattraktion war, ein Pionier-Faltboot-Rennen von Tölz nach München, die Einweihung des Kriegerdenkmals, den Besuch von Paul von Hindenburg 1927 in der Stadt sowie einen Faschingszug 1935 durch die Marktstraße.

Aus der Nachkriegszeit gebe es noch einige Filme im Archiv, die die Stadt und gesellschaftliche Ereignisse zeigten. "Aber diese sind jetzt die Ältesten bewegten Bilder, die wir haben", freut sich Lindmeyr. Im Stadtarchiv, das ist seit dem Umzug klar, gibt es keine weiteren Filme mehr. "Aber wer weiß, was es privat noch alles gibt?", fragt er sich. Sollten Bürger Filmdosen oder Streifen finden, freut sich Lindmeyr, wenn sie Kontakt mit ihm oder ihrem jeweiligen Stadtarchiv aufnehmen. Denn nach einer professionellen Sichtung ist schnell klar, ob das, was darauf für die Ewigkeit festgehalten ist, auch für die Öffentlichkeit von Interesse ist.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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