SZ-Adventskalender:Wenn zwei Stellen nicht zum Leben reichen

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Zuerst Matratzen verkaufen, dann noch im Reitstall schuften, zwischendurch die beiden Kinder betreuen: Über eine Frau, die fast nur arbeitet und nie Freizeit hat - und dennoch kaum über Geld verfügt

Von Pia Ratzesberger, Bad Tölz-Wolfratshausen

Freie Zeit hat Monika Richter nur nachts. Wenn sie schläft. Am Vormittag verkauft sie im Geschäft Matratzen, am Nachmittag geht es weiter zu ihrem zweiten Job, in den Reitstall. Wenn die Kinder abends im Bett sind und die Wohnung bereits dunkel ist, sitzt sie noch lange vor dem Computer, um all das abzuarbeiten, was sie den Tag über nicht schafft. Rechnungen, E-Mails an die Versicherung, Anträge fürs Amt. Dann endlich wieder: Schlafen, wenn auch nur für kurze Zeit. 50 Stunden die Woche arbeitet Richter im Schnitt, etwa 2000 Euro netto verdient sie damit. 500 Euro bleiben am Ende des Monats übrig, für sie und ihre zwei Kinder. Da darf nichts passieren, keiner krank werden, kein Auto kaputt gehen, keine Waschmaschine defekt sein. "Manchmal denke ich mir schon, bitte ein anderes Leben", sagt Richter.

Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen gibt es mehrere solcher Fälle: Menschen arbeiten und dennoch reicht ihnen der Verdienst nicht für das Nötigste. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge haben in Deutschland mehr als 2,4 Millionen Arbeitnehmer neben ihrer sozialversicherungspflichtigen Hauptanstellung noch einen Mini-Job. Auch wenn manche von ihnen sich einfach nur etwas dazuverdienen wollen, ist der Trend deutlich: Die Zahl der sogenannten Multi-Jobber hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre fast verdoppelt - viele sind auf die Mehrfach-Tätigkeiten angewiesen. Auch, weil ihre Hauptbeschäftigung oft nur ein Teilzeitjob ist. Weil es keine Vollzeitstelle gibt oder weil die Kinder betreut werden müssen.

Immer mehr Menschen haben verschiedene Jobs. Der Verdienst reicht nicht für das Nötigste - und der Kühlschrank muss manchmal fast leer bleiben. (Foto: Catherina Hess)

Monika Richter, die mit ihrem echten Namen nicht in der Zeitung stehen will, arbeitet im Verkauf in Teilzeit, 20 Stunden die Woche. Im Reitstall ist die 39-Jährige so viel wie möglich, auch an Samstagen und Sonntagen. Ihre Kinder freuen sich, wenn es regnet. Weil dann an den Wochenenden keiner ausreiten will und die Mutter mit ihnen Zuhause bleiben kann. Zuhause bleiben muss, würde Richter sagen.

Was die Kinder selig macht, bedeutet für sie weniger Einnahmen. Die 39-Jährige ist eine zierliche Person, ihre Hände hat sie im Schoß gefaltet, während sie von ihrem Alltag erzählt. Vor allem, wenn es um die Sorgen der Kinder geht, fällt es ihr schwer die Fassung zu bewahren. Ihre Augen glänzen, doch die Tränen hält sie zurück. Sie hat gelernt, vieles zu ertragen. Bis vor kurzem hatte sie sogar noch einen dritten Job, um halb fünf Uhr morgens hat sie Zeitungen ausgetragen. 85 Stück in zwei Stunden, sechs Tage die Woche, etwa 200 Euro im Monat. Das aber hat die 39-Jährige nur ein paar Monate durchgehalten - nicht, weil sie es nicht geschafft hätte, "ich weiß, was harte Arbeit bedeutet", sagt sie. Sondern, weil die Kinder morgens alleine waren, während die gelernte Verkäuferin von Briefkasten zu Briefkasten ging.

Richters Situation ist typisch für die der Erwerbsarmen in Deutschland, sind doch vor allem Frauen betroffen. Wenn es zur Scheidung kommt, sind sie oft in der schwächeren Position, sie haben im Gegensatz zu den Männern im Zweifelsfall eine längere Auszeit wegen der Kinder genommen, bekommen am Arbeitsmarkt dann keine ihrer Ausbildung entsprechende Stelle mehr. Zudem sind sie auf den Unterhalt des Mannes angewiesen.

Das zum Beispiel ist das große Problem von Monika Richter: Ihr Mann, von dem sie momentan in Scheidung lebt, sitzt seit einigen Monaten im Gefängnis und zahlt keinen Unterhalt mehr. Nun fehlen ihr jeden Monat 860 Euro. Erfolgreich einklagen könne sie die aber erst, wenn die Scheidung rechtskräftig ist, sagt Richter. Von der Scheidung hänge zudem auch die Unterstützung vom Sozialamt für die 75 Quadratmeter große Dachgeschoss-Wohnung ab. 860 Euro kostet die, da habe sie viel Glück gehabt. Aber trotzdem übersteigt die Miete das, was sie zahlen kann.

Vom neuen Jahr an wird der Kindergarten für den drei Jahre alten Sohn monatlich 110 Euro kosten, der Hort für die acht Jahre alte Tochter 170 Euro. Letztere wünscht sich seit langem ein Stockbett, dazu eine neue Matratze und einen Lattenrost. Der Sohn bräuchte eine eigene Kommode. Doch daran ist nicht zu denken, muss die Mutter doch selbst ablehnen, wenn ihre Tochter im Supermarkt nach einem der glänzenden bunten Kinderhefte quengelt. Während andere Mütter die Zeitschrift ohne zu Überlegen auf das Kassenband legen, muss Richter ihrem Kind sagen: "Ist nicht drin."

Dringend braucht sie vor allem ein neues Auto. Bei ihrem Ford Explorer funktionieren die Bremsen nicht mehr richtig, einen neuen Wagen aber kann sie sich nicht leisten. Wegen der Arbeit im Stall müsse es ein Zugfahrzeug sein, dafür müsse man ungefähr 10 000 Euro einplanen, sagt Richter. Deshalb fährt sie weiter mit dem maroden Auto über das Land, was solle sie sonst machen - "ich kann ja schlecht zu Fuß laufen", sagt die 39-Jährige. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man im Landkreis nicht weit, auf vielen Strecken verkehren überhaupt keine Busse, manche Verbindungen werden viel zu selten angeboten.

Früher einmal, bevor Richter Kinder bekam, hat sie als Filialleiterin in München gearbeitet und das Zwei- bis Dreifache verdient wie heute. Natürlich könnte sie mit ihrer abgeschlossenen Ausbildung auch heute wieder versuchen, einen solchen Job in Vollzeit zu bekommen, aber wer soll dann die Kinder betreuen? "In den Reitstall kann ich sie wenigstens mitnehmen", sagt Richter.

Am Wochenende, bei längeren Ausritten, bringt die 39-Jährige die beiden oft zu den Großeltern oder zu Freunden - immer hat jemand anders Zeit, für die Kinder ist das anstrengend. Am liebsten wäre Richter eine Betreuungsperson, die jedes Wochenende da ist, aber wie soll sie die bezahlen. "Besserung ist nicht in Sicht", sagt sie. Das Wochenende wird sie wieder im Reitstall verbringen. Und am Montagmorgen um acht Uhr im Laden stehen.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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