SZ-Adventskalender:Ankunft im Ungewissen

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Eine Familie in Afghanistan wird fast ausgelöscht. Einer entkommt - doch nun droht die Abschiebung

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Es eine Odyssee zu nennen, die Mohammad A. (Name geändert) durchgemacht hat, wäre eine Untertreibung. Denn der Familienvater hat über Jahre, teils Jahrzehnte Schreckliches durchlebt: Verfolgung, Folter und Morde durch die Taliban, Flucht und Jahre in Lagern, in denen das Leben zum Vegetieren degradiert war. Die Angst vor der Zukunft, vor der Frage, wie es weitergehen soll, sitzt Mohammad A. heute noch im Nacken. Denn obwohl der gebürtige Afghane inzwischen mit seiner Frau und seinen Kindern im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen lebt, ist sein Asylantrag seit mehr als fünf Jahren noch nicht endgültig beschieden. In der Folge ist die Angst vor der Abschiebung zum Alltag geworden. 2017 sollte die Familie schon einmal nach Ungarn abgeschoben werden, in jenen Staat, in dem sie auf ihrer waghalsigen Flucht 2013 zunächst untergekommen war. Nur eine groß angelegte Protestwelle ihrer neuen Nachbarn konnte damals die Abschiebung abwenden. Doch es ist ungewiss, wann über ihren Status endgültigen entschieden wird. "Man hat den Kopf voller Sorgen", beschreibt Mohammad A. seine Situation.

Die Kinder von Mohammad A. sind auf der Flucht über die Balkanroute nach Bayern geboren worden, über Jahre hinweg musste die Familie unerträgliche Zustände in Lagern überstehen. Nun hoffen sie, endlich ankommen zu dürfen. (Foto: Socrates Baltagiannis/dpa)

Nicht, dass sie ihm neu wäre. Denn schon als Jugendlicher war der heute Ende 30-Jährige nach Deutschland gekommen, um sein Leben zu retten. Mohammad stammt aus einer gut situierten Familie: Sein Vater war ein hochrangiger Militär, seine Brüder führten zusammen mit seiner Mutter ein gut gehendes Geschäft in einem belebten afghanischen Stadtzentrum. Als die Taliban jedoch immer mehr an Einfluss gewonnen, lockten sie seinen Vater in einen Hinterhalt und erschossen ihn. Seine Brüder wurden bedroht, seiner Mutter gelang es gerade noch, mit dem jungen Mohammad in ein Flugzeug zu steigen, um ihn bei Verwandten in Sicherheit zu bringen. Als die Mutter in ihr Heimatland zurückkehrte, geriet auch sie zwischen die Fronten und wurde von Taliban entführt. Bis heute fehlt von ihr jede Spur. "Meine ganze Familie ist vernichtet", sagt Mohammad und kämpft merklich damit, die Tränen und das Entsetzen zu unterdrücken.

Der junge Mohammad wiederum war nicht glücklich in der neuen Heimat - zwar in Sicherheit, doch die dramatischen Nachrichten von seiner Familie ließen ihn traumatisiert und verstört zurück, in einem Land, in dem ihm Menschen, Kultur und Sprache fremd waren. "Ich war ja noch ein Kind, als ich ankam, und meinen ersten Bart habe ich in der Fremde rasiert", erzählt er. Als Volljähriger entschloss er sich, nach Afghanistan zurückzukehren - in der Hoffnung, dass die Schreckensherrschaft ein Ende haben werde und er seine Mutter finden könne.

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(Foto: SZ)

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Die Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Allein durch seinen Nachnamen und seinen Vater geriet auch er ins Visier der Taliban. Mohammad heiratete, doch das junge Paar wurde bedroht. Schnell war klar, hier lässt sich keine Existenz mehr aufbauen. Vor mehr als zehn Jahren entschlossen sie sich zur Flucht, zurück nach Europa über die Balkanroute. Doch diese Flucht wurde zu einer einzigen Reihe von Traumata: Insbesondere in Ungarn ging es der jungen Familie - inzwischen hatten sie ihr erstes Kind bekommen - schlecht. Im ersten Flüchtlingslager herrschten unmenschliche Bedingungen, es gab kaum Platz, keine Hygiene, zu wenig Nahrungsmittel. Ratten liefen ihnen über die Füße, das Wasser war knapp und dreckig, nichts half gegen die Kälte außer dünnen Decken und ein bisschen spärlicher Kleidung. Aufgrund der unhaltbaren Zustände wurde das Lager geschlossen - mit der Folge, dass die Familie obdachlos wurde. "Wir haben nächtelang auf der Straße geschlafen. Eine Wohnung zu kriegen war völlig utopisch." Schließlich landeten sie in einem weiteren Flüchtlingslager, und als auch dort die Bedingungen unerträglich wurden, beschwerte sich Mohammad. "Da haben sie mich verprügelt", erzählt er. Eine Sprachlehrerin lieh ihnen etwas Geld, damit sie nach Österreich weiterziehen konnten, wo ihr zweites Kind auf die Welt kam. Doch kaum dort angekommen, wurden sie wieder nach Ungarn zurückgeschickt, wo die Familie ins Gefängnis kam, die sogenannte "Schutzhaft" für Asylbewerber. Sein früherer Protest wurde Mohammad nach eigenen Aussagen zum Verhängnis. Erst nach fünf Monaten wurde die Familie wieder in ein Asylbewerberheim überführt.

Spätestens jetzt war der Familie klar dass sie dort keine Zukunft haben würden. Sie entschlossen sich, nach Deutschland zu fliehen. "Jahrelang nirgends anzukommen, nirgends zu Hause zu sein, das zermürbt", beschreibt er. Doch im Landkreis scheinen sie zum ersten Mal seit langer Zeit genau das zu schaffen: anzukommen. Nach ersten Aufenthalten in Flüchtlingslagern fanden sie Platz in einer kleinen Wohnung im Landkreis. Mohammad optimiert seine Sprachkenntnisse, seine Frau lernt auf eigene Faust ebenfalls Deutsch, und der Familienvater beginnt eine Ausbildung zum Krankenpflegehelfer. Für seine Kollegen ist er eine Bereicherung, "es gab und gibt viel Lob", sagt er. Längst hat er eine Vollzeitstelle inne und ist bei der Belegschaft genauso beliebt wie unter den Pflegebedürftigen. Und Mohammad engagiert sich, bringt sich als ehrenamtlicher Übersetzer ein, die ganze Familie spricht inzwischen fließend Deutsch und bringt sich bei sozialen und gesellschaftlichen Ereignissen gerne in der Gemeinschaft und Kommune ein. Auch wenn es bei dem kleinen Einkommen an vielem fehlt, um von Null an wieder eine Einrichtung zu haben und den Kindern das mitzugeben, was für andere Schüler selbstverständlich ist, ein Arbeits-Laptop etwa. Dennoch ist die Familie ein gelungenes Beispiel für Integration. Doch die Behörden sehen das anders, oder wollen die Integration vielleicht auch nicht sehen. Vor zwei Jahren erhielt die Familie einen Abschiebebescheid nach Ungarn - dreieinhalb Jahre nach ihrer Ankunft im Landkreis. Der Schock war groß, auch für das Umfeld. Eine Welle der Unterstützung rollte an, Kollegen und Nachbarn setzten sich für ein Bleiberecht ein, die Familie klagte gegen den Bescheid. Seither hängt ihre Zukunft in der Luft, die Entscheidung wie ein Damoklesschwert über ihnen. Doch sie wollen alles dafür tun, endlich auch offiziell den Stempel zu haben, angekommen zu sein. Das ist das große Ziel, für das er weiterkämpfen will.

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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