Porträt:"Ich will am Menschen sein"

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Heinrich Soffel wurde erst im März 2021 zum Dekan von Bad Tölz ernannt. (Foto: Manfred Neubauer)

Heinrich Soffel, der neue Dekan für die evangelischen Kirchengemeinden im Bezirk Bad Tölz, möchte vor allem das Miteinander und die Ökumene fördern. Er begreift sich eher als Wegbereiter für gemeinsame neue Ideen denn als Chef der Mitarbeiter in den Kirchen.

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Mit manchen Bemerkungen verblüfft Heinrich Soffel. Zum Beispiel damit, dass er für "Kirchturmdenken" sei. Wer nun argwöhnt, der neue Dekan für die evangelischen Kirchengemeinden im Bezirk Bad Tölz huldige mit diesem Satz einem Rückzug in eine Welt, die nicht über den eigenen Horizont hinaus reicht, befindet sich gründlich auf dem Holzweg. Das Gegenteil ist gemeint. "Da steigt man hoch auf den Turm der Kirche und verschafft sich einen Überblick", sagt Soffel: "Man guckt, was da noch so alles ist." Damit ist auch der neue Dekan gerade beschäftigt.

Das Eingewöhnen in Tölz ist ein nicht gerade einfaches Unterfangen inmitten der Corona-Pandemie mit ihren Kontaktverboten. "Ich mache viele kleine Besuche, treffe mich mit einzelnen Leuten", erzählt der 55-Jährige. Und er nimmt an einer Menge Videokonferenzen teil. Das sei immer noch besser, als bloß zu telefonieren, sagt er. Aber: "Es ist weniger als sich zu treffen."

Damit intoniert der neue Dekan auch gleich ein Leitmotiv. Immer wieder kommt er darauf zurück, wie wichtig es für ihn selbst und für die Kirche sei, nahe am Menschen zu bleiben. Das Inklusionsprojekt "Café Miteinand" in Tölz sei ein gutes Beispiel dafür, sagt er. "Das geht im Moment einfach ab." Seine vorrangigen Aufgaben sieht Soffel darin, "das Miteinander zu fördern über die Gemeindegrenzen hinaus", eher Wegbegleiter als Chef für die Mitarbeiter im Dekanat zu sein und gemeinsam neue Ideen zu entwickeln. Dabei gefällt es ihm, dass er auf seinem neuen Posten zur einen Hälfte noch evangelischer Gemeindepfarrer, nur zur anderen Dekan ist. "Ich will am Menschen sein, ich will im Kindergarten sein, ich will Gottesdienste feiern, ich will nicht nur der Herr Dekan sein", sagt er.

Anfang März trat Soffel die Nachfolge von Martin Steinbach an, der 16 Jahre lang Gemeindepfarrer in Tölz und evangelischer Dekan für die Landkreise Bad Tölz-Wolfratshausen und Miesbach war. Der gebürtige Münchner wuchs in Laim auf, studierte evangelische Theologie in München und Erlangen, arbeitete als Vikar in Waldkraiburg, später als Pfarrer in Erlangen-Frauenaurach und Rehlingen. Seit 2004 war er Gemeindepfarrer im niederbayerischen Pfarrkirchen. Diözese Passau also, 85 Prozent katholisch - so etwas gibt es sogar in Bayern sonst kaum noch. Nicht einmal an seinem neuen Arbeitsplatz. Trotzdem befindet er auch in Tölz und den umliegenden Gemeinden als Lutheraner tief in der Diaspora. Aber wieder überrascht der neue Dekan mit einer Äußerung. Das Wort "Diaspora" komme aus dem Griechischen und bezeichne nicht eine Art Exil, sondern eigentlich Sporen, die man zur Aussaat verstreue, sagt er. Insofern "bin ich gerne Diaspora". Ob dort dann etwas wachse, müsse man sehen. Dazu brauche man "Urvertrauen" und nicht "zu viel Prozessdenken", sagt Soffel.

Evangelisch, katholisch, orthodox: Bei allen Unterschieden setzt er auf das Gemeinsame der christlichen Glaubensrichtungen. Jesus Christus, sagt er, habe ja auch keine Konfession gekannt. "Er wollte mit dem Menschen sein, er hat gesagt, komm zu mir, was brauchst du?" Deshalb glaubt Soffel auch nicht daran, dass sich die Probleme der evangelischen Kirche durch ein schärferes Profil lösen lassen, vielmehr durch "eine verstärkte Ökumene". Sich nicht zu fragen, ob jemand katholisch oder evangelisch, ob christlich oder muslimisch sei - dies sei "ein urchristlicher Impetus", erklärt der neue Dekan.

Außerdem stehen die christlichen Kirchen in einer Welt, die sich rasch wandelt, oftmals vor den selben Problemen. Stichwort: Kirchenaustritte. "Das treibt mich um", sagt Soffel. Ein Grund dafür sind die Missbrauchsskandale, vor allem, aber nicht nur in der katholischen Kirche. Ein anderer ist zuweilen die Kirchensteuer. Die habe es vor gut 100 Jahren noch nicht gegeben und sie sei dann zunächst bloß von zehn Prozent der Bevölkerung bezahlt worden, sagt der Dekan. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe man sie als Solidarbeitrag in einer Demokratie und nicht als Abgabe an die Obrigkeit angesehen - was sich inzwischen jedoch wieder geändert habe. "Es ist der allgemeine Trend, dass man sich heute fragt, was habe ich von dem Geld, das ich zahle", so Soffel. Das gelte für die Krankenkasse, die Lebensversicherung, eben auch für die Kirchensteuer. Der Gedanke sei oft verschwunden, dass man in eine Solidargemeinschaft einzahle und "sich freut, dass man nichts braucht, weil es einem gut geht".

Stichwort: Schwund der Gläubigen. Das Dekanat Bad Tölz zählt derzeit noch etwa 29 500 Gemeindemitglieder, etwas weniger als vor ein paar Jahren. Früher, erzählt Soffel, habe eine Stadt in der Größe von Bad Tölz etwa 100 Konfirmanden im Jahr gehabt, davon seien dann vielleicht 20 bis 25 geblieben und in evangelische Jugendgruppen gegangen. Nun hätten solche Kirchengemeinden manchmal überhaupt nur fünf, sechs Konfirmanden. Soffel spricht von einem "Kohorten-Effekt": Die Eltern treten aus der Kirche aus und lassen ihre Kinder nicht mehr taufen, die dann wiederum ihre Kinder nicht zu Taufe bringen. Auch dagegen setzt der evangelische Dekan auf ökumenische Zusammenarbeit.

Aber das ist nicht so einfach. Unter anderem wegen des Priestermangels. In der evangelischen Kirche komme ein Pastor auf etwa 1500, in der katholischen Kirche ein Priester auf rund 3000 Gläubige. "Es gibt immer einige katholische Priester, mit denen man sich trifft, aber sie haben kaum noch Zeit", erzählt er. "Das erschwert die Ökumene." Als er Anfang März seinen Einführungsgottesdienst in Tölz zelebrierte, waren auch Stadtpfarrer Peter Demmelmair von der Pfarrei Maria Himmelfahrt und Peter Priller von den Alt-Katholiken dabei. Mit Demmelmair habe er "ein schönes Gespräch" geführt, erzählt Soffel. Als Christen unterschiedlicher Konfessionen habe man andere Vornamen, aber doch den gleichen Nachnamen.

Die Kinder, die von hochpädagogischen Kindertagesstätten in die Schule wechseln und nicht mehr vom gemeinsamen Spielen auf der Straße ins Klassenzimmer kommen; die Teenager, für die Modelle kirchlicher Jugendarbeit aus der Mottenkiste stammen; die Senioren, die nachmittags nicht gemeinsam Volkslieder singen und Kaffee trinken wollen, sondern die als "New Ager" und mit Wohnmobilen unterwegs sind; die Corona-Pandemie, die gewohnte Strukturen fortspült, die vielleicht nicht wieder kommen: "Es gilt, die Veränderungsthemen, die wir gerade erleben, wahrzunehmen, zusammen Ideen zu entwickeln und etwas Neues zu entdecken", sagt Soffel.

Aber erst einmal muss er sich einleben. Noch wohnt der 55-Jährige bei Freunden in Lenggries. Wenn er zwischen Gottesdiensten, Besuchen und Videokonferenzen etwas Zeit hat, räumt er seine Dienstwohnung in Bad Tölz ein. Seine Frau wird nachkommen. Sie betreut ihren jüngsten Sohn, der heuer sein Abitur macht, die beiden anderen Kinder sind erwachsen. Zum Musizieren auf der Gitarre und dem Charango, das ihm ein peruanischer Künstler gebaut hat, ist er kaum gekommen. Ebenso wenig zu seinem anderen Hobby: dem Liegeradfahren. Mit dem dreirädrigen Gefährt hat er bisher nur einmal eine Runde auf dem Parkplatz am Tölzer Schützenweg gedreht. Soffel besitzt zwei solcher Trikes: eines mit, eines ohne Elektroantrieb. Und wieder verblüfft er mit einem Satz: "In den Bergen ist es besser ohne Elektro." Da trete man mit den Füßen nach vorne und fahre ganz langsam hoch. "Ich finde es angenehm."

© SZ vom 23.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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