Pubertät:Jugendliche ohne Jugend

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Max Aichbichler vom Jugendhaus La Vida in Wolfratshausen macht sich Sorgen um die Entwicklung seiner Schützlinge. (Foto: Hartmut Pöstges)

Für Teenager bedeutet die Corona-Krise einen harten Einschnitt: Die sozialen Einschränkungen im Lockdown behindern in ihrem Leben eine wichtige Einwicklungsphase. Der Wolfratshauser Sozialarbeiter Max Aichbichler warnt vor den Folgen.

Von Marie Heßlinger, Wolfratshausen

Die Lichtanlage ist neu, aber die Sofas sind leer. Am Mischpult steht kein DJ, die großen Lautsprecher in den Ecken sind stumm: Auch der La-Vida-Partykeller ist wegen Corona geschlossen. Das Team des Wolfratshauser Jugendhauses hat dennoch viel zu tun: Denn der coronabedingte Lockdown trifft Jugendliche besonders stark.

Dass Gartencenter und Friseure öffnen dürfen, aber Einrichtungen für Jugendliche nicht, darüber hat Jugendhausleiter Aichbichler schon Ende Februar seinen Unmut geäußert, zusammen mit anderen Jugendsozialarbeitern aus dem Landkreis. Nun sitzt der 27-Jährige im Büro des Jugendhauses. Von draußen sind die Schreie spielender Kinder aus der Mittagsbetreuung zu hören, drinnen lernen neun Schüler in der Notbetreuung. Diese laufe auf Hochtouren. "Räumlich und personell sind wir an unseren Grenzen", sagt Aichbichler, "sonst würden wir mehr Schüler nehmen, weil der Bedarf sehr, sehr hoch ist." Er schätzt, dass rund 30 Prozent aller Schülerinnen und Schüler im Unterricht nicht mehr mitkommen. Doch an dieser Stelle soll es nicht wieder um die Schulen gehen, sondern die Sorgen der Jugendlichen abseits des Unterrichts.

Das Jugendhaus La Vida hat eine Notfall-Nummer eingerichtet, es versucht, mit seinen Jugendlichen über Whatsapp und soziale Medien im Kontakt zu bleiben. Aichbichler und sein Team bieten Treffen für Einzelgespräche an, bei einem Kaffee im Haus oder einem Spaziergang im Freien. "Manchmal hilft es schon, mit jemandem zu reden, der unabhängig ist von Freunden und Familie", sagt er.

Im Schnitt mindestens zweimal die Woche nähmen Jugendliche das Angebot nach einem Einzelgespräch an. Doch die Hürde, Hilfe zu suchen, sei höher, wenn die Heranwachsenden selbst den ersten Schritt tun müssten. Wenn man sie ungezwungen im Partykeller oder im Café des Jugendhauses fragen würde, ob alles okay sei, wäre das einfacher. "Da wird das Eis schneller gebrochen", sagt Aichbichler.

Oft gehe es in den Einzelgesprächen während des Lockdowns um Stress mit den Eltern oder Stress wegen Corona. "Mama redet von Verschwörungstheorien", sagen manche. Oder: "Ich kann das Thema einfach nicht mehr hören am Küchentisch." Häufig gehe es auch um Streitigkeiten mit Freunden oder ersten Beziehungen.

"Jugendliche lernen erst, Konflikte zu lösen", sagt Aichbichler "Sie sind dabei teilweise noch sehr unbeholfen." Corona verstärke die Schwierigkeiten dabei: "Der Konflikt bleibt länger stehen." Ein zufälliges Aufeinandertreffen der Konfliktparteien, bei dem sie gezwungen sind, ihre Streitigkeiten beizulegen, findet wegen der derzeitigen Einschränkungen seltener statt. Corona verschärft Konflikte aber auch noch auf eine andere Weise: "Insgesamt ist ein Knistern in der Luft", sagt Aichbichler, "die Stimmung ist angespannt." Das Aggressivitätslevel sei gestiegen. Doch den Jugendlichen fehle ein Ventil. Die Bereitschaft zu körperlichen Auseinandersetzungen und Anfeindungen im Internet habe zugenommen.

Die Anspannung entstehe oft durch die Situationen der Familien zu Hause. Aichbichler beobachtet, dass es vor allem jene Jugendliche schwerhaben, die durch ihre Familien wenig Unterstützung erfahren. Zudem setze vielen Jugendlichen die fehlende Auslastung im Privatleben zu: kein Sport, keine Vereine, deren Trainer einen motivieren und die merken, wenn es einem Mitglied nicht gut geht. "Kein Kontakt. Keine Freude."

Dass Jugendliche sich trotzdem in Gebüschen und an Bahnhöfen treffen, weiß auch Aichbichler. "Partys kann man das nicht nennen", sagt er. "Sie treffen sich mit ihrer Clique, mit dem Freundeskreis, wo sie ungestört sind." Viele nähmen dafür das Risiko einer Bußgeldzahlung in Kauf. Das zeige, wie groß der Frust darüber sei, von der Politik nicht gehört zu werden, sagt Aichbichler. Und wie groß der Bedarf nach sozialen Kontakten.

"Man darf die Tatsache nicht vergessen, dass Jugendliche in einer Phase der Entwicklung sind, wo sich viele Merkmale der Persönlichkeit entwickeln", sagt der gelernte Erzieher und aktuelle Bachelorstudent in sozialer Arbeit. "Man spricht in der Psychologie von sensiblen Phasen." Phasen, in denen der Mensch bestimmte Dinge besonders schnell lerne. Das Kleinkindalter sei die erste besonders sensible Phase, die Jugend die zweite und damit letzte. Für Jugendliche seien soziale Kontakte also besonders wichtig.

Eigene Konfliktlösestrategien, eigene Rollen und Werte könnten Jugendliche am besten mit Gleichaltrigen entdecken, sagt Aichbichler. Dies sei auch wichtig für die Zukunft: Die Fähigkeit, sich im Beruf behaupten zu können und selbstbewusst aufzutreten, werde beispielsweise im Kontakt mit anderen gelernt. Das nachzuholen, sei schwierig. "Dieses Zeitfenster ist von der Entwicklung her einfach irgendwann geschlossen", sagt Aichbichler. "Jeder war mal jung. Diese Zeit wird ihnen genommen." Der Sozialarbeiter wünscht sich mehr Verständnis dafür.

Doch warum treffen viele Jugendliche gerade bei Älteren auf Unverständnis? "Weil Jugendliche optisch erwachsen wirken, aber innerlich viel hin- und herschwingen und ausprobieren, rebellieren", sagt Aichbichler. Er nennt das Beispiel guter Schulabschlüsse, finanzieller Sicherheit. "Jugendliche denken da noch nicht daran", sagt er. "Die sind im Hier und Jetzt."

In seinen Augen vergesse die Gesellschaft oft die positiven Seiten Jugendlicher. Ihr soziales Engagement nennt er als ihre wichtigste Stärke. Oft passiere es, dass Jugendliche am Bahnhof Kreditkarten oder Handys fänden - und sie im Jugendhaus abgäben, anstatt sie einzustecken. Auch bei Umbauaktionen des Jugendhauses hätten sie sich oft handwerklich stark engagiert - "für lau", sagt Aichbichler. "Oder einmal war hier ein Unfall vor der Türe. Die Erwachsenen waren noch in der Schockstarre, da sind die Jugendlichen schon losgelaufen und haben geholfen."

© SZ vom 08.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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