Flucht und Asyl:"Mir fehlt eine komplette Familie"

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Von den 40 aufgenommenen Geflüchteten sind nur noch zehn Schülerinnen und Schüler geblieben. (Foto: Manfred Neubauer)

Das Max-Rill-Gymnasium hat im Frühjahr 40 ukrainische Geflüchtete aufgenommen. Wie geht es den Kindern heute? Über ein Leben zwischen Krieg und Prüfungsstress.

Von Anja Brandstäter, Reichersbeuern

Im Max-Rill-Gymnasium wurde gerade gewerkelt, als Russland Ende Februar 2022 die Ukraine überfallen hat. Im Frühjahr darauf hat das Gymnasium in Reichersbeuern innerhalb von zwei Wochen 40 ukrainische Geflüchtete aufgenommen. "Als der Krieg begann, war für mich klar, dass wir dort Ukrainer unterbringen", erzählt Schulleiterin Carmen Mendez. "Wir waren gerade dabei, ein Internatsgebäude komplett zu renovieren. Unter anderem musste die Elektronik erneuert werden. Viele Spenden vom Dorf und vom Verein ,Tölz hilft' haben dabei sehr geholfen. Eine Herausforderung war allerdings, Doppelstockbetten zu bekommen, sie waren ausverkauft", so Mendez. Nachdem das weitgehend renovierte Internatsgebäude schnell eingerichtet war, fanden die Geflüchteten dort ein sicheres Dach über dem Kopf. Und Carmen Mendez hat von April an vom Landratsamt Zuschüsse für deren Beherbergung bewilligt bekommen.

Seitdem hat sich viel verändert. Einige Ukrainer sind wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, andere sind nach England weitergezogen, manche auch in ein anderes europäisches Land. Geblieben sind zehn Schülerinnen und Schüler und drei Frauen, die seither in der Küche des Internats arbeiten. Alle drei Frauen sind akademisch gebildet.

Die ukrainische Köchinnen Svitlana Zelentsova (l.) und Olha Prokopova arbeiten in der Küche des Max-Rill-Gymnasiums. (Foto: Manfred Neubauer)

Die Unsicherheit bei den Schülern ist groß. Sie lernen für den ukrainischen Schulabschluss und gehen gleichzeitig in den deutschen Unterricht. Einige möchten in Deutschland bleiben und studieren, andere so schnell es geht zurück in ihre Heimat. Erstere sind hochmotiviert, Deutsch zu lernen.

Stepan, im Teenager-Alter, sagt sehr ernst: "Mir fehlt eine komplette Familie". Sein Vater ist in der Ukraine, während seine Mutter und sein 26-jähriger Bruder mit dessen Familie in Deutschland leben. "Meinem Vater geht es gut. Er hilft der ukrainischen Armee als Zivilist und repariert zum Beispiel Autos. Er ist Ingenieur und gelernter Schiffsbauer", erklärt er. Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen nicht ausreisen. So auch der Vater des ungefähr gleichaltrigen Ivan. Er ist ebenfalls Ingenieur und arbeitet als Zivilist in der Ukraine. "Ein paar Mal in der Woche rufe ich meinen Vater über WhatsApp an", sagt er.

Ivan ist, wie sein ebenfalls geflüchteter Freund Igor, musikalisch hochbegabt. Beide waren auf einer Schule mit Schwerpunkt Musik in Charkiw. "Unsere Schule ist zerstört worden. In einen Klassenraum ist eine Bombe eingeschlagen. Nun ist in der Decke ein Loch", erzählt Ivan. Sie berichten, dass ihre Schule mit sehr teuren Musikinstrumenten ausgestattet war. "Alle Instrumente wurden in Sicherheit gebracht", sagt Ivan.

Das Schulsystem in der Ukraine ist anders als hierzulande

Mit großer Sorge verfolgen die jungen Menschen, was in der Ukraine passiert. Zwei Schüler berichten, dass ihre Freunde beim Schwimmen in einem See getötet wurden. Es ist gerade Ferienzeit in der Ukraine und die Freunde sind zum Baden gegangen. Wie sollen sich die Jugendlichen unter diesen Umständen auf ihre Prüfungen konzentrieren?

Die ukrainische Deutschlehrerin Luba Zoreva und Schulleiterin Carmen Mendez versuchen, den Kindern ein Stück Normalität zurückzugeben. (Foto: Manfred Neubauer)

Das Schulsystem in der Ukraine ist anders als hierzulande. Bis zur neunten Klasse lernen alle gemeinsam und erreichen einen Schulabschluss. Wer danach das Abitur machen möchte, bleibt bis zur elften Klasse auf der Schule. "In der Oberstufe muss man sehr viel lernen", sagt Stepan. Es gibt also keine unterschiedlichen Schulformen wie in Deutschland. Die Sommerferien in der Ukraine dauern drei Monate, erzählen die Schülerinnen und Schüler. "Wir sprechen in der Schule Ukrainisch, aber wir alle können Russisch", erklärt Yaroslava. Die Schülerinnen und Schüler berichten, dass ihre Eltern und Großeltern ebenfalls auch Russisch sprechen, denn Russisch war Amtssprache in der ehemaligen Sowjetunion. Erst seit 30 Jahren lernen Schülerinnen und Schüler Ukrainisch in der Schule. Wenigstens können sie hierzulande Russisch als zweite Fremdsprache belegen. Wie in Deutschland, ist auch in der Ukraine Englisch erste Fremdsprache.

"Als ich nach Deutschland gekommen bin, waren die Naturwissenschaften ganz einfach für mich", erklärt Stepan. Dagegen gab es so etwas wie Religion oder Ethik in der Ukraine nicht. Doch ohne profunde Deutschkenntnisse kann man in Deutschland nicht studieren. Das ist aber das Ziel von Stepan, Ivan und Igor. Stepan möchte, wie sein Vater, Ingenieurwesen studieren. Ivan und Igor haben beste Voraussetzungen auf ein Studium an der Hochschule für Musik. Der eine möchte Klavier und Gesang belegen, der andere Posaune und Klavier. Beide streben eine Profimusiker-Karriere an.

"Niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauert"

Luba Zoreva ist Lehrerin am Max-Rill-Gymnasium, stammt aus Kiew und unterrichtet die geflüchteten Kinder in Deutsch. Sie lebt bereits seit 20 Jahren in Deutschland. "Die Kinder erzählen nichts vom Krieg. Es sind ganz normale Kinder, die auch Spaß haben möchten. Im Deutschunterricht haben wir ukrainische Lieder ins Deutsche übersetzt. Das hat ihnen Spaß gemacht." Weiterhin vermittelt die Lehrerin auch deutsche Geschichte. "Ich dachte, dass es wichtig ist zu erzählen, was die "Weiße Rose" war. Ich habe ihnen von der Berliner Luftbrücke erzählt und wir waren zusammen in Dachau", sagt sie. "Sie sind zufällig hier und haben sich nicht gezielt ausgesucht, nach Deutschland zu kommen", sagt Zoreva.

Schulleiterin Carmen Mendez pflegt eine herzliche Beziehung zu Russland, hat aber nach Kriegsausbruch sofort gesagt, dass sie ukrainischen Geflüchteten helfen möchte. (Foto: Manfred Neubauer)

Aber einige ukrainische Schüler denken auch: Wozu die ganze Anstrengung? Sie sind unmotiviert und enttäuscht, weil sie zurückgestuft wurden. Sie wälzen eine Reihe unterschiedlicher Probleme in ihren Köpfen. "Manchen ist schlicht peinlich, mit jüngeren Kindern in eine Klasse zu gehen, andere beschäftigt, welche Zukunftsperspektiven sich ihnen bieten", sagt die Lehrerin Zoreva. Das fängt bei den Sprachkenntnissen an und geht bis zu der Frage, was kommt, wenn der Krieg einmal beendet sein wird. "Um hier etwa studieren zu können, benötigt man das Sprachniveau B2, das macht einigen Sorgen," so Zoreva. "In der ukrainischen Heimat sind viele Städte zerstört und mit ihnen die Schulen und Bildungseinrichtungen. Da schwindet die Zuversicht, dort schnell wieder Fuß fassen zu können. Und niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauert."

Schulleiterin Carmen Mendez ist mit der Finanzierung der sogenannten Brückenklassen beschäftigt. Diese Klassen sind im September 2022 für schulpflichtige Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen, die Deutsch gerade erst lernen oder nicht ausreichend beherrschen, eingerichtet worden. Bisher konnte Mendez die Kurse über Spenden bezahlen. Nachdem die Spendenbereitschaft jedoch nachgelassen hat, fehlen jetzt Geld und Lehrkräfte. "Der Staat verlässt sich darauf, dass Ehrenamtliche diese Arbeit übernehmen. Man kann nicht erwarten, dass die Menschen auf Dauer kostenlos arbeiten", sagt Mendez. "Die Integrationskurse müssten ganztägig stattfinden."

Die Schulleiterin hat eine, wie sie sagt, herzliche Bindung zu Russland: "Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe Slawistik studiert". Das Max-Rill-Gymnasium unterhält eine Partnerschaft zu einer russischen Schule in Moskau - trotz Krieg. Der letzte Schüleraustausch fand, auch pandemiebedingt, im Jahr 2017 statt. Doch auch damals prallten schon Welten aufeinander.

"Dort haben wir ,Wehrkundeunterricht' kennengelernt", erzählt Mendez, und führt fort: "Da lernen die Schülerinnen und Schüler, Kalaschnikows zu zerlegen und wieder zusammen zu bauen, und das Marschieren." Krieg sei, vermutet die Schulleiterin, für die Russen ein Bestandteil des Lebens. "Das geht niederschwellig los, zum Beispiel gibt es im Sportunterricht Handgranaten-Weitwerfen", sagt sie. Aus Übung ist inzwischen bittere Realität geworden: "Dagegen verliert die Ukraine in diesem Krieg eine ganze Generation", sagt Mendez. "Denn viele junge Männer werden nie wieder zurückkommen".

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