Inklusion im Landkreis:"Bei uns ist wenig angekommen"

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Markus Ertl kandidiert auf der Liste der Freien Wähler auch für den Lenggrieser Gemeinderat. (Foto: Freie Wähler/oh)

Als Inklusionsbotschafter und fast Blinder kennt der Lenggrieser Markus Ertl die Defizite bei der Inklusion. Über zu engagierte Bahnhelfer, die Tücken des Lenggrieser Bahnhofs und arbeitslose Menschen mit Behinderungen

Interview von Arnold Zimprich

Markus Ertl, 46, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Lenggries. Wegen einer degenerativen Netzhauterkrankung ist er mittlerweile blind mit Sehrest, kann also noch Farben wahrnehmen, aber keine Menschen erkennen und braucht Brailleschrift zum Lesen. Als Inklusionsbotschafter engagiert er sich weit über Lenggries hinaus für eine bessere Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Im Interview spricht er über die Herausforderungen einer Bahnreise quer durch Deutschland, Inklusions-Defizite im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen und seine Wünsche für das neue Jahr.

Herr Ertl, Sie haben 2019 zu fünft eine Bahnreise durch alle Landeshauptstädte nach Berlin unternommen. Was ist Ihr Fazit?

Markus Ertl: Es war für mich eine Erkenntnis, den Bedarf anderer auf der Reise kennenzulernen. Ein Gehörloser braucht Anzeigen, keine Durchsagen - bei mir ist es umgekehrt. Jemand, der leichte Sprache benötigt, versteht eben nicht "RE 1710 Hbf Berlin nach Hbf Potsdam Gl. 2 17:10 Uhr", er möchte "Zug nach Potsdam Gleis 2 Abfahrt um 17:10 Uhr" lesen, um es zu verstehen.

Und die Hilfe vor Ort?

Die war oft überdimensioniert. Ich schmunzle heute noch über drei Bahn-Mitarbeiter. Einer führte mich, der andere zog meinen Koffer und die dritte Person hat mich unterhalten.

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Wie kamen Sie eigentlich dazu, als Inklusionsbotschafter tätig zu werden?

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland suchte 2016 Menschen mit Behinderungen, die sich für die eigenen Belange stark machen möchten. Ich habe mich mit meinem eigenen Inklusions-Projekt "Lasst mich dabei sein - Facebook barrierefrei" beworben, bei dem ich die noch wenig bekannte digitale Barrierefreiheit als Notwendigkeit für inklusive Strukturen mit Social Media verbunden und für beides Werbung gemacht habe.So kann man auf Facebook Alternativtexte zu Fotos anlegen, die vorgelesen werden.

Wo gibt es hier im Landkreis noch Nachbesserungsbedarf bei der Inklusion?

Überall! Während andere Landkreise bereits den ersten Aktionsplan evaluiert haben, hat der Kreistag erst im Oktober eine Inklusionsstrategie auf den Weg gebracht. Die Politik tut sich mit dem Thema Teilhabe schwer. Es wird lieber über als mit den Menschen gesprochen. Trotzdem möchte ich den Kreistag loben. Bei der Erarbeitung einer Empfehlung für den Aktionsplan wurden Menschen mit diversen Einschränkungen beteiligt.

Sehen Sie Menschen mit Behinderungen in der Landkreispolitik ausreichend stark vertreten?

Nein, sehe ich nicht. Aber das ist nicht nur in der Landkreispolitik so, dies sehe ich auf vielen Ebenen der Politik gleichermaßen.

Wie viele Menschen mit Behinderung sitzen im Kreistag?

Vom viel zitierten Paradigmenwechsel ist bei uns im Landkreis noch wenig angekommen.

Lenggries hat einen vergleichsweise modernen Bahnhof. Wo muss die Nutzung des ÖPNV für Behinderte vereinfacht werden?

Der Lenggrieser Bahnhof mag modern aussehen - versuchen Sie aber mal von Bahnsteig 2 mit einem Rollstuhl abzufahren. Das geht nicht! Das Blindenleitsystem ist zwar vorhanden, leitet aber bloß einmal den Bahnsteig entlang und weiter nicht - nicht einmal zu den Haltestellen der Busse. Bei den Blindenleitsystemen an den Haltestellen sehe ich auch grundsätzlich den größten Handlungsbedarf. Ein Problem sind aber auch die Automaten. Kaufen Sie sich an einem Automaten mit Touchscreen mit geschlossenen Augen einmal Fahrkarten. Wo bekommen Gehörlose die Informationen aus dem Lautsprecher angezeigt?

Seit fast 30 Jahren arbeiten Sie für die örtliche Sparkasse. Wie sieht Ihre Arbeit vor Ort aus?

Früher war ich in der Kundenberatung, heute arbeite ich in Teilzeit als Personalentwickler. In meiner freiberuflichen Tätigkeit helfe ich anderen, sich selbst, ihr Team oder Unternehmen zu entwickeln und vermittle in Konfliktsituationen.

Wo sehen Sie beim Thema Inklusion am Arbeitsplatz den größten Handlungsbedarf?

Das kann man pauschal nicht sagen. Brauche ich als Blinder die digitale Barrierefreiheit, brauchen andere einen Arbeitsassistenten oder einen rollstuhlgerechten Arbeitsplatz. Die Inklusion ist ein Querschnittsthema, sie muss auch in der Arbeitswelt erlebbar werden. Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen ist ein eindeutiger Indikator für großen Handlungsbedarf.

Was wünschen Sie sich als Inklusionsbotschafter für 2020?

Ich wünsche mir, dass die Botschaft Inklusion auch im Landkreis ankommt und Stück für Stück erlebbar wird.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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