Kulturherbst Geretsried:Volles Haus mit Leerverkäufen

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Claus von Wagners Auftritt beginnt aus der Mitte des Publikums. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Claus von Wagner schafft es, die Zuschauer fast drei Stunden lang mit dem sperrigen Thema Finanzmärkte zu unterhalten. Ein kabarettistisches Meisterstück.

Von Petra Schneider, Geretsried

Das Zirkuszelt ist fast voll, die Heizanlage hat gute Arbeit geleistet, Bürgermeister Michael Müller ist da - kein Zweifel: "Der Kulturherbst 2018 findet statt", begrüßt Organisator Günter Wagner die Zuschauer süffisant und in Anspielung auf die Pleite vor zwei Jahren. Die Eröffnungsveranstaltung am Freitag ist ein fulminanter Auftakt: Denn was Claus von Wagner unter dem Sternenhimmel des mächtigen Zelts zaubert, ist ein kabarettistisches Meisterstück. Immer wieder gibt es Zwischenapplaus für das ebenso kluge wie dramaturgisch innovative Stück, das im Kern eine Tragikomödie ist und mit aktuellen Themen und Anleihen aus der Fernsehsendung "Die Anstalt" aufgepolstert wird.

"Theorie der feinen Menschen" hat der 40-Jährige sein viertes Soloprogramm genannt, das bereits im Frühjahr 2012 Premiere feierte und noch immer aktuell ist. Auch das "Mini-Tollwood", als das sich der Kulturherbst diesmal präsentiert, kommt gut an - in der Pause strömen fast alle Besucher zu den Buden nach draußen.

Wenn einer sich fast drei Stunden lang dem Thema Finanzmärkte widmet, ohne seine Zuhörer in Schläfrigkeit zu versetzen, dann muss er schon Claus von Wagner heißen. Natürlich weiß man danach nicht besser Bescheid über Leerverkäufe und Derivate mit klingenden Namen wie Nixe oder Loreley. Und auch die kryptischen Satzungetüme, die Wagner aus der Financial Times vorliest, tragen nicht unbedingt zum besseren Verständnis bei. Sollen sie auch nicht, denn Undurchschaubarkeit gehört offenbar zur Funktionsweise des Finanzsystems, und dieses zu entlarven gehört zum Programm von Wagner.

"Dieser Kopf hat Erfahrung mit Vakuum."

Der gebürtige Münchner mit hannoveranischen Wurzeln ist in Miesbach aufgewachsen, hat Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert. Er war Mitglied beim "Ersten Deutschen Zwangsensemble", ist Teil der ZDF-"Heute-Show" und seit 2014 neben Max Uthoff Gastgeber der Kabarettsendung "Die Anstalt". In seinem Programm liefert Wagner eine fein ausgearbeitete Studie in geschliffener Sprache, die ohne ätzenden Zynismus auskommt und bei aller ernst gemeinten Kapitalismuskritik Selbstironie und Contenance nicht verliert.

Den Anfang macht ein Potpourri zur aktuellen Lage, das Wagner aus der Mitte des Publikums verlauten lässt. Satire sei schwierig geworden. "Was soll man zu Menschen wie Trump dazuerfinden?" Oder zu Söders Idee eines bayerischen Raumfahrtprogramms? Vielleicht: "Dieser Kopf hat Erfahrung mit Vakuum." Seehofers Masterplan ("Den hätte man gleich an der Grenze des guten Geschmacks zurückweisen sollen"), Chemnitz, die Maaßen-Affäre - "entschuldigen Sie, jetzt habe ich angefangen zu politisieren", sagt Wagner und betritt die Bühne; die Tragikomödie nimmt ihren Lauf.

Seine Figur Klaus Neumann ist in der Höhle des Löwen gefangen, im Tresorraum der Deutschen Bank. Dort versucht er eine Rede über seinen verstorbenen Vater zu schreiben, der als Wirtschaftsprüfer Angehöriger eines Systems war, das der Protagonist weder versteht noch interessant findet. Wagner spielt mit Verve, enttarnt den Derivatehandel als eine Art Pferdewette, Finanzberater als diabolische Gierhälse, die arglosen Sparern mit ihren Theorien, Prognosen und Kommazahlen das Hirn vernebeln. Er erklärt komplexe Zusammenhänge bildhaft und verwendet beinahe poetische Metaphern: "Wir sind das Plankton im Meer der Finanzhaie." Ahnungslos, wie Insassen eines Flugzeugs, das stetig brummt und irgendwie Kurs hält, bei dem aber beizeiten die Durchsagen des Piloten Verunsicherung hervorrufen: "Hilfe, ich kann die Anzeigen nicht mehr lesen." Aber der beruhigende Ton hält an, und schließlich gibt es in der ersten Klasse eine Frau, die Zuversicht verströmt: "Keine Sorge, ich hab' Physik studiert", sagt Mutti und formt die Hände zur obligatorischen Raute.

Der Plot gewinnt an Fahrt: Neumann, der selbst im väterlichen Wirtschaftsprüfungsunternehmen arbeitet, deckt einen Skandal auf, sagt dem feinen Doktor Gump die Meinung und erstickt beinah im Keller. Eine Metapher dafür, dass wir womöglich alle zugrunde gehen an den Mechanismen unserer Wirtschaftswunderwelt, gefangen in der Hand böser Banker, die sich nicht scheuen, Wetten auf den Tod von Senioren abzuschließen. Aber so einfach macht Wagner es sich nicht. Er ertappt sich dabei, dass ihn der Bettler vor dem Bioladen ärgert: "Das ist nicht fair, Menschen anzupumpen, die eh schon im Bio-Supermarkt einkaufen." Ist moralisches Handeln also aufrechenbar, wie bei den Doktor Gumps dieser Welt und ihren Charity-Galas?

Das Finale ist eine in kaltes, blaues Licht getauchte Vision eines Raubtierkapitalismus, in die Wagner gekonnt Motive des Programms einflicht - ein grandioser Abend, der mit tosendem Applaus endet.

© SZ vom 08.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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