Internationales Internat:Der heimliche Bayer aus Changchun

Lesezeit: 4 min

In der bayerischen Idylle zu Hause: Im Internat von Schloss Reichersbeuern hat Dayuan Wang Heimatgefühle entwickelt. Nur die knarzenden Holzdielen in den alten Räumen sind ihm immer noch nicht geheuer. (Foto: Manfred Neubauer)

Dayuan Wang kam als Austauschschüler, nun hat der junge Chinese am Max-Rill-Gymnasium in Reichersbeuern das Abitur gemacht. Der Abschied vom Dorf fällt ihm schwer.

Von Benjamin Engel, Reichersbeuern

In China fallen ihm inzwischen manche Wörter nicht mehr ein. Dann kommt dem 19-jährige Dayuan Wang nur noch das deutsche Wort in den Sinn: Autobahn. "Wie es auf Chinesisch heißt, weiß ich schon gar nicht mehr", sagt der junge Mann. "Das ärgert mich." Flüssig erzählt der Abiturient auf Deutsch vom gegensätzlichen Leben im Internat des Max-Rill-Gymnasiums im Dorf Reichersbeuren und in der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole Changchun im Nordosten Chinas. Dort besucht er seine Familie seit vier Jahren nur noch in den Ferien. Als er 2013 zunächst für ein Austauschjahr nach Deutschland kam, war es umgekehrt. "Ich konnte nur Guten Tag oder Tschüss sagen - mehr nicht." In China hatte er nie Deutsch gelernt, nur Englisch. Und doch hat er nun gerade erst das bayerische Abitur mit der Note 2,3 abgeschlossen. Jetzt will er in München Physik studieren.

Und wo fühlt sich ein junger chinesischer Großstädter denn nun zu Hause? Die Antwort kommt schnell: "Ich bin langsam und heimlich Bayer geworden", sagt er. Sogar eine Lederhose hat er im Schrank hängen. Er schwärmt von der idyllischen Landschaft um Reichersbeuern und dem ruhigen, im Vergleich zu China langsameren Leben im Ort. "Ich mag es gerne, in einem kleinen Dorf zu leben. Hier hast du alles, was du brauchst." Die Klagen seiner Internats-Mitschüler, dass dort nichts los sei, teilt er nicht. Er fahre gerne mit dem Rad, damit sei er auch schnell in Bad Tölz, etwa zum Eisessen. Er joggt in der Natur und spielt Basketball in der Schulturnhalle. Und Wang isst gerne Brezen. Nur mit dem Bier hat er es nicht so. "Ich vertrage nur zwei, drei Schluck", erklärt er.

Mit der Leidenschaft für den FC Bayern hängt eng zusammen, warum es den jungen Mann ausgerechnet nach Reichersbeuern am Alpenrand verschlagen hat - und doch ist die Geschichte komplizierter. Schon in China ist Wang ein Fan des Münchner Fußballvereins, verfolgt mit seinen Cousins die Spiele im Fernsehen. Deshalb bewarb er sich für das Reichersbeurer Internat in der Nähe der bayerischen Landeshauptstadt. Er war inzwischen auch schon öfters zu Spielen in der Allianz-Arena. Doch wer die ganzen Beweggründe verstehen will, muss im Leben von Wang vier Jahre zurückspringen.

Wegen der damals noch streng durchgesetzten "Ein-Kind-Politik" in China wächst er als Einzelkind auf. Sein Vater ist Manager, die Mutter Rechtsanwältin - klassische Mittelstandsfamilie, wie er sagt. Doch in der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole Changchun ist der tägliche Lebensrhythmus schnell - vom Weg zum Bus bis zum Essen. In der Schule sitzt Wang mit 59 Mitschülern in einem Klassenraum. Den Unterricht empfindet er als stressig und anstrengend. Nach der neunten Klasse - in China folgen auf sechs Jahre gemeinsame Grundschule drei Jahre middle school und drei Jahre high school, jeweils mit Abschlussprüfungen - reicht es Wang. Er ist 15 Jahre alt. "Ich habe mit meinen Eltern über ein Austauschjahr geredet", erzählt er. Sie entscheiden sich für ein Programm des weltweiten Netzwerks "Youth for Understanding" (YFU). Deutschland oder die USA stehen zur Wahl. Genau zu dieser Zeit wird ein Austauschschüler in einer Garage in den Vereinigten Staaten ermordet. "Da war die Entscheidung für meine Eltern klar. Deutschland ist viel sicherer als die USA." Wang landet zunächst bei einer Gastfamilie in Minden in Nordrhein-Westfalen. "Ich hatte 15 Jahre lang immer Fernweh", erinnert sich Wang. "Die ersten zwei Monate habe ich meine Familie überhaupt nicht vermisst."

Nur die Sprache kann er auch nach drei Wochen Crashkurs mit zehn anderen Austauschschülern in Thüringen immer noch kaum. Wang erzählt von den Schwierigkeiten mit der deutschen Grammatik, den Artikeln, den Fällen Dativ und Akkusativ. "Ich habe nur Englisch gesprochen." Im Unterricht am Mindener Gymnasium versteht er nichts außer den naturwissenschaftlichen Fächern. "Mathematik ist eine weltweite Sprache. In Physik und Chemie haben wir viele Experimente gemacht." Zwei Monate wurschtelt sich Wang mit Englisch durch, bis die Verantwortlichen im Austausch-Netzwerk YFU ein Ultimatum stellen. Er darf fortan nur noch Deutsch reden.

Das zweisprachige deutsch-englische Buch "Wie man ein Deutscher wird in 50 einfachen Schritten" von Adam Fletcher wird für ihn zum Schlüsselwerk. Wang nimmt noch ein Wörterbuch zur Hilfe und liest, am Anfang schafft er nur eine Seite pro Tag. Aber langsam spricht er besser, weil auch seine Gastfamilie nur noch auf Deutsch mit ihm redet. Nach dem Ende des Austauschjahres will Wang unbedingt wieder nach Deutschland zurück. Sonst würde er die Sprache ja wieder verlernen, argumentiert er gegenüber seinen Eltern. Und die zahlen ihm schließlich den Internatsaufenthalt in Reichersbeuern für drei Jahre von der zehnten bis zum Abitur in der zwölften Klasse und die Heimflüge in den Oster-, Weihnachts- und Sommerferien.

Im Max-Rill-Gymnasium ist alles eine Nummer kleiner. Es gebe nur etwa 20 Lehrer, jeder kenne jeden, die Wege seien kurz, erzählt Wang. Er habe Freundschaften zu französischen, russischen, Schweizer, chinesischen und deutschen Mitschülern geschlossen. Einmal, erzählt er, habe er eine Pinnwand für sein Zimmer haben wollen, dafür habe er nur kurz zum Hausmeister gehen müssen. Und wolle er einmal Spaghetti kochen, brauche er bloß in die Küche zu gehen. Nur die Vorliebe der Deutschen für dunkles Brot konnte Wang am Anfang gar nicht verstehen. Es schmeckte ihm einfach nicht. Sah er einen Brotlaib vor sich liegen, fühlte er sich immer an einen Stein erinnert. "Bei uns gibt es immer nur Reis."

Obwohl Wang nun fließend Deutsch spricht, hadert er immer noch mit den Texten und dem Schreiben. Er kämpft sich durch die Klassiker von Friedrich Schiller über Joseph von Eichendorff bis Johann Wolfgang Goethe. "Bei Goethe hatte ich in Deutsch nur einen Punkt, ich war verzweifelt." Und den Faust, erzählt er, könne er zwar lesen. Doch wirklich verstehen, was der Dichter damit ausdrücken wolle, könne er noch immer nicht. Der Tipp der Lehrer, sich künftig auf Sachtexte zu konzentrieren, trägt indes Früchte. Damit kommt Wang wesentlich besser zurecht. Jede Woche kauft sich der Schüler ein politisches Magazin, informiert sich so über die Politik und die Demokratie in Deutschland.

Bald wird Wang zum Studium nach München ziehen, das stimmt ihn traurig. Geht doch seine Zeit in Reichersbeuern damit zu Ende. Dort wurde er Max genannt, was auch an der Tür zu seinem Zimmer im Neubau unweit des Schlosses steht. Das komme daher, dass er schon im Englischunterricht in China einfach Max gerufen worden sei und es diesen Namen auch in Bayern gebe, erklärt er. Von seinem Zimmer im Neubau, nur zwei Minuten vom Schlossgebäude entfernt, braucht er bloß ein Stockwerk nach unten zu gehen und die Haustür zu öffnen. Schon steht er praktisch mitten in der Natur - vor sich eine Koppel mit grasenden Pferden. Dass er sich einfach aufs Rad schwingen und nach Bad Tölz oder Tegernsee fahren konnte, wird er vermissen. Nur die knarzenden Dielenbretter im alten Schlossgebäude haben ihm nie recht behagt. Weil er das Geräusch nicht mochte, zog er lieber in den Neubau .

© SZ vom 18.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: