Integration:"Den Jugendlichen wird zu wenig Vertrauen geschenkt"

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Waleri Weinert trainiert in seinem Sportverein in Geretsried Jugendliche aus 15 Nationen. Er sieht auf dem Weg zu einer besseren Integration auch die Deutschen in der Pflicht.

Bernhard Lohr

Waleri Weinert hat sich die Integration junger Menschen in die Gesellschaft zur Lebensaufgabe gemacht. Der 50-Jährige kam selbst als Aussiedler 1994 von Russland nach Geretsried. Drei Jahre später gründete er den Integrations-Sportverein Edelweiß, der Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft im Sport Halt gibt. Edelweiß bietet heute sechs Sportarten in einem neuen Trainingszentrum an. Weinert sieht richtige Ansätze in der aktuellen Debatte. Seiner Meinung nach ist es aber mit der oft geforderten Sprachkenntnis nicht getan. Und auch die Deutschen, sagt er, müssen sich bewegen.

Waleri Weinert gibt mit seinem Integrations-Sportverein Edelweiß vielen Jugendlichen Halt und Orientierung.  (Foto: Manfred Neubauer)

Aktuell wird viel über Integration gesprochen.

Nur gesprochen, leider.

Muss mehr passieren?

Man muss wirklich etwas in Bewegung setzen und nicht nur reden. Was bedeutet denn Integration laut Duden? Wiederherstellung eines Ganzen. Und das muss geschehen.

Meine ganze Familie war 1945 von Ostdeutschland nach Nordrussland verschleppt worden. Mein Vater war da zwölf Jahre alt, mit zwei Schwestern und Mutter. Und er ist nach 45 Jahren im Jahr 1990 zurückgekommen. Tausende Familien haben so ein Schicksal erlebt. Für mich war dann klar, ich muss mich hier integrieren, weil ich endlich nach Hause gekommen bin.

Und Sie haben als ehemals erfolgreicher Boxer den Integrations-Sportverein Edelweiß gegründet. Warum?

Das war vor rund 14 Jahren. Ich habe auf einem Spielplatz Dehnübungen gemacht, und da haben mich Jugendliche angesprochen, ob sie mitmachen können. Zwei Wochen später waren 30 Jungs da. Das war die Gründung unseres Vereins. Und dann unterhält man sich und kriegt mit, dass es Probleme gibt.

Was für Probleme?

Geretsried-Stein war immer schon ein Problemviertel. Die Jugendlichen waren alle aus dem Übergangswohnheim, das es damals für Aussiedler dort gab. Die Stadt hat viel für die Neuangekommenen geleistet. Die Leute haben in Stein auch Wohnungen gekriegt. Es wurde nur russisch gesprochen und nur untereinander. Das zweite Problem: Die Familien mussten von Null anfangen. Nicht jeder hat einen Job gekriegt, dazu kamen Alkoholprobleme. Und auch Drogen waren nicht unbekannt. Dann habe ich angefangen, mit den Jugendlichen zu arbeiten. Ich bin ja Pädagoge und habe in Russland zwölf Jahre als Lehrer gearbeitet.

Ihre Idee war, junge Menschen über den Sport zu integrieren.

Eine andere Möglichkeit habe ich nicht gesehen. Das war das einfachste, ich mache selbst gerne Sport.

Im Sportclub trinken sie nicht, da rauchen sie nicht.

Erst gestern ist ein Jugendlicher bei mir wieder aufgetaucht, er war als Boxer sehr, sehr erfolgreich, und dann war er plötzlich sechs, sieben Monate weg. Er hatte Probleme mit der Familie und der Schule, und dann war da noch der Alkohol. Ich habe gedacht, ich habe ihn verloren. Jetzt hat er versprochen, er fängt wieder an zu trainieren. Ich glaube, ich kann sagen, ich habe einen Draht zu ihm.

Bis heute, so finden Sie, wird zu wenig Integrationsarbeit gemacht.

Was müsste noch geschehen?

Alle sind zurzeit auf die Sprache fixiert. Sprache, Sprache, Sprache. Sprache ist wichtig. Aber wenn jemand fließend eine Sprache spricht, dann heißt das noch lange nicht, dass er auch innerlich dem Land gegenüber positiv eingestellt ist. Man kann viel mehr machen. Was ist zum Beispiel mit den Diplomen, die in anderen Ländern erworben wurden und die in Deutschland nicht anerkannt werden? Da soll sich ja etwas ändern. Aber wieso hat da keiner früher daran gedacht? Jetzt ist man überrascht, dass Fachkräfte fehlen. Der Philosoph Henry David Thoreau hat gesagt: "Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, ist nichts im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Wenn wir das, was in uns liegt, nach außen tragen, geschehen Wunder." Das habe ich mir für mich zur Richtschnur gemacht

. Die neu hier angekommenen Menschen haben ein riesiges Potential, es wird ihnen zu wenig Vertrauen geschenkt, um herauszuholen, was in ihnen steckt.

Sie sind für die Jugendlichen in Ihrem Club ein Vorbild.

Ich bekomme schon auch kritische Fragen zu hören. Du versuchst uns zu integrieren, heißt es dann, und bis doch selbst nicht integriert. Du bist Pädagoge, sagen sie, aber du bist als solcher nicht anerkannt. Das Diplom ist nicht anerkannt.

Ich bin bis heute nicht mehr als ein Lagerarbeiter, obwohl ich ein Hochschuldiplom habe. Das ist ein Potential. Aber acht Jahre Studium zählen hier nichts, das ist schon bitter.

Für Ihre Integrationsarbeit bekommen Sie viel Lob, aber wenig Lohn.

Alleine im Oktober habe ich 118 Stunden in den Club gesteckt. Das ist ein ganz normaler Job, den ich neben meinem Beruf ausübe. Im Durchschnitt komme ich auf 110 Stunden im Monat.

Das ist ehrenamtliche Arbeit, für die es eine Übungsleiterpauschale gibt.

Wie viele Nationen sind in Ihrem Verein vertreten?

Es sind 15 Nationen, das reicht von Afrika bis Europa. Es sind Jugendliche aus Russland genauso dabei wie aus dem Kongo.

Werden im Training auch 15 verschiedene Sprachen gesprochen?

Nein, es wird nur deutsch gesprochen. Ich schimpfe immer, wenn jemand eine andere Sprache spricht und andere da sind, die das nicht verstehen können. Das beleidigt die anderen. Ich fordere denjenigen dann auch auf, raus zu gehen. Du musst deutsch reden.

Muss die Politik mehr für Integration tun?

Die Vorschläge, die gerade in jüngster Zeit auf den Tisch kommen, sind ja nicht schlecht. Aber das kommt alles ein bisschen spät. Eine ganze Generation ist verloren. Was hilft es mir, wenn jetzt mein Universitätsdiplom anerkannt wird? Ich bin 20 Jahre schon nicht mehr im Beruf. Ich habe sowieso keine Chance mehr. Ich werde aber trotzdem versuchen, dass das noch anerkannt wird. Für mich ist das auch psychologisch wichtig. Schließlich war ich zwölf Jahre lang Lehrer.

Spüren Sie eigentlich in der Gesellschaft überhaupt die Offenheit, Menschen aus anderen Ländern und Kulturen aufzunehmen.

Nicht überall. Das merke ich manchmal, wenn ich mit meinem Akzent irgendwo anrufe und etwas will. Zweimal ist mir das schon passiert, dass es hieß: Nein, das geht nicht. Ich komme dann nicht mehr weiter. Mein Arbeitskollege nebenan hilft mir dann. Der ruft eine Stunde später an und kriegt sofort, was er will. Man darf Menschen nicht so teilen. Es hat mir mal jemand gesagt: Waleri, du bist gut, bis du den Mund aufmachst. Es gibt da ganz interessante Studien, wie die, in der untersucht wurde, wie gleiche Fehler in Prüfungsarbeiten von Jugendlichen bewertet werden. Das Kind, das Maximilian hieß, hat bessere Noten gekriegt als Abdullah

Ihr Club ist Stützpunktverein des Programms "Integration durch Sport" im Bayerischen Landessportverein. Hilft das?

Das wird auch vom Bayerischen Innenministerium unterstützt, und das hilft sehr. Ohne dieses Programm könnte der Verein gar nicht existieren. Wir kriegen logistische und finanzielle Unterstützung, ohne die ich zumachen und die Schlüssel im Rathaus abgeben müsste. Trotzdem ist es schwer.

Sie machen aber weiter.

Das Einzige, was mich wirklich motiviert, sind die Erfolge der Jugendlichen. Vergangenen Samstag haben wir bei dem Turnier Box-Open-2010 des BC Piccolo Fürstenfeldbruck mit 21 Vereinen einen Wanderpokal nach Geretsried geholt. Eigentlich ist Boxen ja ein Sport Mann gegen Mann, für Einzelkämpfer. Aber wir haben dort als Mannschaft gewonnen. Mein Ziel ist, dass wir als Mannschaft auftreten. Und wir waren die beste Mannschaft.

Interview: Bernhard Lohr

© SZ vom 27.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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