Literatur:Blick zurück mit Zwischenrufen

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Dieses Foto von Josef Brustmann entstand bei Filmaufnahmen in Wien. (Foto: Monika Schuh-Wibmer / Allitera Verlag/Monika Schuh-Wibmer)

Josef Brustmann hat eine außergewöhnliche Biografie geschrieben. "Jeder ist wer" ist eine Mischung aus Prosatexten, Bildbeiträgen und lyrischen Zäsuren - rau, unsentimental und ergreifend.

Von Wolfgang Schäl, Icking

"Jeder ist wer" lautet der Titel einer biografischen Erzählung von Josef Brustmann, die vor wenigen Tagen im Allitera-Verlag erschienen ist. Dass er selbst wer ist, weiß man schon: umtriebiger Musiker, Kabarettist, von vielen Auftritten her bekannt, der Leise, Nachdenkliche, der Mann mit der Zither, in Icking lebend und in Waldram aufgewachsen. Nun präsentiert sich Brustmann als Autor mit lyrischen Ambitionen, als authentischer Chronist seiner Familie, als einer, der dem Leser seine Erinnerungen unsentimental, aber anrührend anvertraut.

Dabei hätte man doch annehmen können, dass über das Leben im vormaligen Lager Föhrenwald, dem heutigen Wolfratshauser Ortsteil Waldram, das Meiste schon gesagt wäre - das Schicksal der Heimatvertriebenen, die Armut, das Ringen, im Leben wieder Fuß zufassen. Historisches Neuland betritt Brustmann also nicht, neu ist aber die konsequente Innenansicht, die sehr ehrliche, persönliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung einer ganzen Generation nach dem Krieg.

So schildert er anschaulich das armselige, aber moralisch fest fundierte Leben einer kinderreichen, christlichen Familie in den Nachkriegsjahren - emotional, aber zum Glück nie ins Larmoyante abgleitend. Es geht um das Schicksal der Vertriebenen nach Ende des Zweiten Weltkriegs und das mühselige Wieder-Fuß-Fassen in einem historisch geprägten Umfeld, in dem sich bis zu Beginn der Sechzigerjahre noch das jüdische Schtetel-Leben der Displaced Persons abgespielt hatte. Nicht alle, die in Föhrenwald eine Bleibe gefunden hatten, waren schnell damit einverstanden, dass sie den christlichen Großfamilien weichen mussten.

Familie Brustmann im Jahr 1966. (Foto: Dominik Brustmann/oh)

Brustmann entfaltet die Geschichte einer unter schwierigen Verhältnissen lebenden Familie, die sich wirtschaftlich sehr eingeschränkt über Wasser hält, in der aber auch viel gesungen, gelacht, musiziert und gebetet wird. Und auch gestorben. Zwei Großväter haben sich aus verschiedenen Motiven heraus das Leben genommen - nach katholischem Dogma unverzeihliche Sünde; zwei der neun Geschwister sind nicht alt geworden. Die Eltern sind religiös und stark wertorientiert. Konflikte, Missverständnisse, Krankheit und Trauer müssen bewältigt werden.

"Zärtlichkeit gab es nicht bei uns zu Hause."

Der Vater kehrt gebeugt und innerlich beschädigt nach acht Jahren Krieg und Gefangenschaft zurück, spricht über seine Erlebnisse nicht. Als schwierig schildert Brustmann das Verhältnis zu ihm, der sich über Jahre hinweg nicht in der Lage sieht, seinem Sohn Josef die notwendige Zuneigung zu vermitteln. "Zärtlichkeit gab es nicht bei uns zu Hause", schreibt er etwa. "Bisweilen lag etwas Zärtliches in einem kleinen Lob, wenn die Stimmen der Eltern einmal nicht erzieherisch streng waren, das schon. Oder wenn mich meine Mutter früh weckte, ein leichtes Kraulen am Kopf mit drei Fingern, schon eher eine pünktlich-akkurate Pflichtübung, aber durchaus ein wenig zärtlich, es hätte ja auch grob oder kalt oder gleichgültig ausfallen können. Man konnte sich schon etwas zusammenreimen."

Den Geldbeutel hat Brustmanns Vater in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft genäht. "Er hielt bis an sein Lebensende", schreibt Brustmann. "Zurzeit gehört er mir." (Foto: Jens Heilmann/oh)

Erst spät normalisiert sich das Verhältnis zum Vater. "Wir haben wenigstens noch zehn bis 15 gute Jahre miteinander gehabt", erinnert sich Brustmann im Gespräch. Umso unbeschwerter, vertrauter und liebevoller sei heute das Verhältnis zu den Schwestern.

Mehr als ein Jahr lang, die Zeit der Pandemie nutzend, hat er an seinem ersten Buch gearbeitet, einer Mischung aus biografischen Elementen, Prosatexten, Bildbeiträgen und lyrischen Zäsuren, die er selbst "poetische Zwischenrufe" nennt. Wie er im Gespräch erzählt, ist das Projekt in einer ungewöhnlichen Situation entstanden: Bei schlechtem Wetter in Hamburg vor einem Hotel sitzend, reflektiert er emotional bewegt - "tränenübergossen" - seinen familiären Hintergrund und findet zu dem Beschluss, die Geschichte seiner Familie vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse, der strengen moralischen Vorgaben der Nachkriegszeit und der allmählichen Veränderungen in Richtung der 1968-Jahre in Worte zu fassen. Da geht es unter anderem um Keuschheit vor der Ehe. Wo hätte man dazu schon etwas in einer Geschichte über Waldram gelesen?

Er sei sich durchaus des Risikos bewusst gewesen, sich bei seinen Erinnerungen ins Anekdotische, äußerlich Biografische zu verlieren, gesteht Brustmann, aber es sei ja auch so, "dass einen das Schreiben selbst verändert". Ganz ohne Anekdotisches geht es erwartungsgemäß dann aber nicht ab.

Da ist beispielsweise eine kuriose Szene, als dem Vater Alois Brustmann die Ehre der rituellen Fußwaschung am Gründonnerstag zuteil wird - Grund genug, sich daheim schon vorab einer höchst peniblen Reinigungsprozedur mit Seife und Bürste zu unterziehen, man will sich schließlich vor dem Pfarrer nicht blamieren. Und so vollzog sich die heilige Fußwaschung eigentlich schon vorab in der Küche, schreibt Brustmann - mit dem Vater als Waschendem und Gewaschenem in einer Person. "Und wir Kinder waren leiser als sonst und braver, ein wenig verwundert und mitverzaubert, vielleicht auch, weil sich während dieser konzentrierten Waschtätigkeit alles Immerstrenge von unserem Vater löste und wir Kinder vor ihm sicher schienen."

In Ehren gehalten: das Zopfende der Mutter. (Foto: Jens Heilmann/oh)

Stark anrührend schildert er eine andere persönliche Szene. Als man die tote Mutter Valerie in den Sarg gelegt hat, schneidet ihr eine Schwester zur Erinnerung das Zopfende ab - auf Josefs Wunsch hin, er selber wäre in dieser intensiven Begegnung mit dem Tod dazu nicht in der Lage gewesen. Die Locke wird dann in einem kunstvollen Gefäß wie eine Reliquie in Ehren gehalten. "Manchmal wird mir der Anblick zu viel und ich verstecke das Glas im Schrank", schreibt er. "An leichteren Tagen hole ich es wieder hervor. Ganz selten nehme ich das kunstvolle Haarschopf-Geschöpf aus dem Glas. Ganz selten nur berühre ich die Haare meiner Mutter und scheu."

Aus den Fragmenten der Erinnerungen ist schließlich ein durchgängiges Ganzes geworden. "Am Anfang war das alles eher assoziativ", sagt Brustmann, "das hat sich erst ordnen müssen, um mit dem Leser auf Augenhöhe zu sein." Der Spontaneität und Unbefangenheit dürfe dies allerdings keinen Abbruch tun. "Man muss die Bilder beatmen, damit sie ins Herz dringen."

"Jeder ist wer. Menschenwege in Herzgegenden" ist am 14. November bei Allitera (ISBN 978-3-96233-400-0) erschienen und kostet 20 Euro.

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