"Die ersten Jahre haben wir in einem Bunker gewohnt", erzählt Evangelos Karassakalidis von seiner Kindheit. Insgesamt wohl ein Dutzend Gastarbeiterfamilien sei in dem Gebäude im Geretsrieder Fasanenweg untergebracht gewesen, jeweils zu sechst oder zu acht in einem Zimmer. Erst ein paar Jahre später sei der Bunker abgerissen worden und Firmen wie Speck, Lorenz, Ilpea, Empe und Franz hätten Wohnungen für ihre Arbeiter gebaut, etwa in der Jeschkenstraße. Seit mehr als 50 Jahren lebt der gebürtige Grieche in Geretsried. Bei der Beschreibung seiner Lebensrealität von damals schwingt aber keine Kritik mit.
"Herzlich willkommen! Als die 'Gastarbeiter' kamen" hieß die vollbesetzte Veranstaltung am Sonntagabend im Erinnerungsort Badehaus, die in Zusammenarbeit mit dem Museum der Stadt Geretsried stattfand. Etwas schade war es schon, dass die angekündigte Familie Ünsal vom Wolfratshauser Dönerimbiss Pamukkale dann doch nicht kommen konnte. Die türkischen Erfahrungen hätte man gern gehört. So war das Gespräch auf griechische und italienische Zeitzeugen beschränkt.
Karassakalidis ist noch in dem bitterarmen Dorf in Griechenland geboren worden. Wie er Badehaus-Chefin Sybille Krafft und der Geretsrieder Kulturamtsleiterin Anita Zwicknagl erzählte, hätten sich die Familien mit dem Geld, das der Tabakanbau einbrachte, kaum über Wasser halten können. Die Anwerbeverträge aus Deutschland kamen deshalb wie gerufen. Auch seine Eltern wollten für ein paar Jahre weggehen, um Geld zu verdienen, die Kinder wuchsen bei den Großeltern auf. Dass die Eltern mit einer Eisenbahn und anderen großen Geschenken kamen, machte den Abschiedsschmerz am Ende der Sommerferien nicht wett. 1971 holten sie ihn und den Bruder nach Geretsried. Viele Verwandte waren schon dort. Der erste war ein Onkel. Ihn habe der Chef schon bald gefragt, ob er nicht noch mehr Leute wisse, die so gut arbeiteten wie er.
Zuvor stimmte ein älterer halbstündiger Dokumentarfilm von Sybille Krafft auf den Abend ein und erinnerte mit vielen Archivaufnahmen an die Zeit, als die deutsche Wirtschaft händeringend Arbeitskräfte suchte und nahezu täglich Sonderzüge aus Südeuropa am Münchner Hauptbahnhof eintrafen. Viel Heiterkeit im Publikum erregten die alten Schwarz-Weiß-Bilder mit Aufnahmen, wie sich die Reisenden im Abteil tüchtig aus der Weinflasche stärkten oder gegen die Langeweile folkloristisch auf der Gitarre spielten, oder wie sie am ersten Arbeitstag von erfreuten deutschen Arbeitgebern wahlweise mit einem Goliath-Bierkrug, einem Moped oder einem Fernseher beglückt wurden. Es machte sich aber auch Betroffenheit darüber breit, dass ausbeuterische Vermieter für eine abbruchreife Kammer ohne Bad für eine mehrköpfige Familie 400 Mark im Monat haben wollten, in den Sechzigerjahren eine Halsabschneider-Miete.
Zeitzeugin Assunta Tammelleo, Chefin der Kulturbühne Hinterhalt, ist in ihrer Jugend vielen Vorurteilen begegnet. Auch sie ist ein Gastarbeiterkind, in Stuttgart geboren und aufgewachsen. "Negerkinder haben sie zu uns gesagt", erinnert sie sich. Des dunklen Teints ihres süditalienischen Vaters wegen. Er stammte aus einer Familie mit 14 Kindern und ging Ende der Fünfzigerjahre als Straßenbauarbeiter nach Deutschland. Auch wenn er eine junge Schwäbin heiratete, er sei weder gut integriert noch wertgeschätzt gewesen, berichtete Tammelleo, nicht einmal in der Familie seiner Frau. Die Oma habe ihrer Tochter stets Vorwürfe gemacht, warum sie denn mit einem "Itaker" dahergekommen sei. "Zeit seines Lebens hat mein Vater Deutsch nur geradebrecht, und er wollte eigentlich immer zurück nach Italien", erzählte Tammelleo, die sich trotz ihrer schwierigen Startbedingungen als "Hilfsarbeiterkind" Abitur und Studium erkämpft hat.
Evangelos Karassakalidis kann nicht von negativen Erfahrungen berichten. Ab Mitte der Neunzigerjahre war er viele Jahre Mitglied des Stadtrats. Zur Kandidatur habe ihn die Stadt Geretsried ermuntert. Die politische Teilhabe habe die griechische Gemeinde aus dem "Niemandsland" geholt, sagt er.
Elisabeth Renner sprach für die Perspektive der Unternehmer. Die Seniorchefin einer alteingesessenen Münchner Baufirma weiß noch, wie es war, als ihr Schwiegervater Gastarbeiter angeworben hat, "weil sonst keiner zu haben war". Bis zu 50 Prozent der Belegschaft stammte aus Südeuropa. Heilfroh sei man über die Unterstützung gewesen. Der erste Ankömmling war ein Portugiese, für ihn wurde extra die Wohnung im Dachgeschoss ausgebaut. Sie selber habe geputzt und die Wäsche für die Arbeiter gemacht. Es habe keine Ressentiments untereinander gegeben - weil man sich auf Augenhöhe begegnet sei. So ist es vielleicht kein Wunder, dass die meisten "Gastarbeiter" gern bei Renner blieben, "Herr Reis" sogar 42 Jahre lang. "Es gab also nicht nur Negatives, nicht nur Ausbeutung", lautete Kraffts Resümee des Abends.