Eindrucksvolle Schilderung:Ein letzter Zeitzeuge

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Abba Naor verlor in Auschwitz Mutter und Bruder. (Foto: Hartmut Pöstges)

Der Holocaust-Überlebende Abba Naor schildert am Rainer-Maria-Rilke-Gymnasium in Icking seinen Leidensweg

Von Susanne Hauck, Icking

Abba Naor sieht aus wie viele alte Herren: ein wenig gebeugt und klein, zarte Brille mit Goldrand, sorgsam gebundene Krawatte. Doch seine Biografie ist so ganz anders als die der Urgroßväter der Schüler, die am Montag im Ickinger Rainer-Maria-Rilke-Gymnasium vor ihm sitzen. Der 91-Jährige ist ein Überlebender des Holocaust. Und vielleicht ist es eine der letzten Begegnungen mit diesem Zeitzeugen, "ist es doch ein Wunder, dass mich der Arzt noch einmal fahren ließ", wie er nebenbei leise sagt.

Abba Naor spricht ohne Pathos, bricht allzu beklemmende Momente mit trockenem Humor auf, mit sicherer Hand klickt er durch die historischen Bilder des Schreckens, die seine Schilderung begleiten. Wenn er berichtet, wie ihm die Mutter morgens noch den verhassten Kakao servierte, ehe die Familie zu Fuß aus dem bombardierten Kaunas flüchtete, scheint es erst gestern gewesen zu sein, so stark haben sich die Bilder in seinem Kopf eingebrannt. Er beginnt mit fester Stimme zu erzählen, von einer unbeschwerten Kindheit in Litauen, wo alle friedlich miteinander lebten - die Juden, die Deutschen, die Russen, die Polen. Auch er, der 13-Jährige mit seinen Eltern und den beiden Brüdern. Er erzählt, wie sich bald nach Hitlers Überfall auf Russland im Juni 1941 die sonst so freundlichen Nachbarn plötzlich voller Hass gegen sie wandten. Wie ihnen das Ghetto in Kaunas zunächst als ein Segen erschien: "Wir fühlten uns anfangs sogar beschützt vor den Litauern."

Es half nichts, dass sie sich immer wieder damit trösteten, dass der Spuk bald aufhören würde - das Grauen rückte immer näher. Weil der Einkauf von Lebensmitteln offiziell verboten war, schickten sie den 14-jährigen Bruder in dem Gedanken los, er würde als Kind vielleicht nur eine Ohrfeige kassieren. "Aber es wurden an dem Tag 26 geschnappt und erschossen, darunter er." Naor berichtet, wie verschneit es am 28. Oktober 1941 war, als sie sich ohne eine Vorahnung auf dem Demokratie-Platz einfinden mussten, wo ganze Familien an den Polizeitrupps vorbeimarschierten, die nach links oder rechts deuteten. "Zehntausend wurden an diesem Tag umgebracht, glauben wollten wir das nicht", sagt er. Einzig die kleinen Kinder habe man nicht erschossen - und da macht er eine Pause. "Sie wurden lebendig in die Gruben geworfen."

Er erzählt von den Leiden im KZ Stutthof, von der Unterwäsche aus Papier, von den schreckliche Wunden verursachenden Holzschuhen, von den Kapos, die jeden Morgen auf dem Weg zum Waschraum mit Gummiknüppeln auf sie einschlugen: "Hin war es nicht so schlimm, aber zurück mit nassem Körper war es nicht so angenehm." Naor zählt die Schikanen des Lagerkommandanten auf, der sie beim Appell so lange mit der Häftlingsmütze ans Bein klatschen ließ, bis alles im Gleichklang ertönte. Die Mutter und der kleine Bruder sah er nicht wieder: Sie wurden am 26. Juli 1944 in Auschwitz vergast.

Naor wurde nach Kaufering verlegt, einem Außenlager des KZ Dachau, wo in der unterirdischen Flugzeugfabrik schier unvorstellbare Bedingungen herrschten. "Wir mussten den ganzen Tag Zementsäcke schleppen, die mit ihren 50 Kilo schwerer waren als jeder Häftling." Die Sterberate war so hoch, dass die Leichen bis zur wöchentlichen Abholung einfach aufeinandergestapelt wurden. Befreit wurde er am 2. Mai 1945 in Waakirchen, im DP-Lager Freimann fand er den Vater wieder.

Es falle ihm nicht leicht, seine Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, so gleichgültig, wie aus dem Leben eines Fremden. "Dafür muss man ein guter Schauspieler sein." Abba Naor ermuntert die Zehnt- und Zwölftklässler, ihm Fragen zu stellen. Wie konnte er sich eine Existenz in Israel aufbauen, war es eine Überwindung, wieder nach Deutschland zu gehen, hat seine Familie über das Erlebte gesprochen? "Mein Vater nie", antwortet der 91-Jährige und erzählt aber gerührt davon, dass sich der neunjährige Urenkel eine Uhr gewünscht habe, um die Zeit zurückdrehen und alle Angehörigen kennenlernen zu können. Eine Schülerin ist so erschüttert, dass sie ihn unter Tränen um Rat bittet, ob sie ihre 90-jährige Oma auf deren Kriegserlebnisse ansprechen soll.

Von den späten Strafprozessen wie jüngst gegen den ehemaligen KZ-Wachmann von Stutthof hält Naor nichts. "Die großen Fische hat man laufen lassen und jetzt macht man einem Wächter den Prozess." Was sollen wir aus Ihrer Geschichte lernen, wollen die Schüler wissen, die zwei Stunden gebannt zugehört haben. Seine Antwort: "Hört nicht auf die falschen Propheten, die sagen, dass damals alles besser war."

© SZ vom 20.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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