Konzert:Raus aus dem Unterholz

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Mitreißende Combo: Florian Riedl, Dominic Glöbl, Benny Schäfer, Sebastian Horn, Gerd Baumann, Flurin Mück und Luke Cyrus Goetze (von links) sind "Dreiviertelblut". (Foto: Manfred Neubauer)

"Dreiviertelblut" für Fortgeschrittene: Im Tölzer Kurhaus begeistert das Septett um Sebastian Horn und Gerd Baumann mit unberechenbaren Liedern zwischen Himmel und Hölle. Ob ein Lied seinen Gang geht - man weiß es einfach nicht.

Von Petra Schneider, Bad Tölz

Das Unterholz ist ein finsterer Ort. Wer sich dort aufhält, muss den Kopf gesenkt halten, ist ganz bei sich und nah am Boden. Gut zehn Jahre lang war das Unterholz das bevorzugte Biotop von Dreiviertelblut, dort gediehen ihre Finsterlieder und die geerdeten, aber unbedingt folklorefreien Volkslieder. Man wolle aus dieser monothematischen Schiene ein bisserl raus, erklärt Gerd Baumann nun beim Konzert im Tölzer Kurhaus. Denn es gehe ja nicht an, dass Leute eine ihrer Platten kaufen "und dann zwei Wochen schlecht gelaunt sind".

Nun, davon kann an diesem Abend keine Rede sein. Das Konzert im voll besetzten Kurhaus ist die reine Freude: mitreißend, erstklassig gespielt, mehr himmelhochjauchzend als zu Tode betrübt. Ein grandioser Befreiungsschlag aus dem Unterholz, könnte man sagen. Erhobenen Hauptes stehen die sieben Dreiviertelblutsbrüder auf der Bühne, Sebastian Horn tanzt, genießt, hört den vielschichtigen Soli seiner Kollegen zu.

Selbstironische Spannung

Dreiviertelblut, das waren schon immer tiefgründige, poetische Texte auf Bairisch und Musik, die diese in musikalische Bilder übersetzt. Manchmal werden die oft grausamen Texte mit geschmeidigem Sound kontrastiert, was eine anregende, bisweilen selbstironische Spannung erzeugt. Oft, und das ist das Großartige auch bei diesem Konzert, ordnet sich die Musik nicht unter. Sie bricht aus, entwickelt ein Eigenleben, ändert Rhythmus und Dynamik. Nie kann man sicher sein, dass ein Lied seinen Gang geht. Die Wechsel sind sprunghaft, und man reibt sich verwundert Augen und Ohren, wie meisterhaft diese Vollblutmusiker auf der Klaviatur der Emotionen spielen. Jazzige Improvisationen, meditative Klarinetten-Intros, harter Rock, Kinderlied-Anleihen, gefühlvolle Balladen, Balkan-Fetzer, Reggae, Rap - alles ist möglich in diesen Liedern zwischen Himmel und Hölle.

Vier Alben sind seit dem Jahr 2013 unter dem Namen Dreiviertelblut erschienen, zuletzt "Plié" im Dezember 2022. Marcus H. Rosenmüller hat einen außergewöhnlichen Dokumentarfilm über das kongeniale Gespann Baumann-Horn gedreht, und spätestens seit ihrem Auftritt im Oktober 2015 auf dem Münchner Königsplatz mit "Mia san ned nur mia" ist Dreiviertelblut ins helle Rampenlicht getreten. Aus dem Duo des ersten Albums "Lieder vom Unterholz" ist ein Septett geworden, zu dem Dominic Glöbl (Trompete), Florian Riedl (Klarinette, Bassklarinette), Benny Schäfer (Kontrabass, Tuba), Luke Cyrus Goetze (E-Gitarre, Lapsteel) und Flurin Mück (Schlagzeug) gehören.

Jeder dieser Ausnahmemusiker bekommt im Kurhaus genügend Raum. Etwa beim Lied "Ewige Wolke", einer schwül-zweideutigen Ode an die erotische Beziehung zwischen Nutzer und Handy, die nicht voneinander lassen können. Musikalisch umgesetzt als druckvoller Rock mit E-Gitarren-Solo und einer Trompete, die den elektrisierenden Herzschlag setzt. "Einige der Anwesenden werden ihre Kindheit und Jugend in den Siebziger- und Achtzigerjahren verbracht haben", sagt Horn. Damals, als Telefone noch mit einem Kabel an der Wand befestigt "und wir frei waren".

Drei Weltpremieren, ein Einzeiler

Ganz zeitgemäß ist eine Hommage an eine Pflanze, die seit dem 1. April nicht mehr im Verborgenen blühen muss. "Schwupp Marie" in gechilltem Reggae-Sound. Oder eine von insgesamt drei Weltpremieren an diesem Abend. Den Song "Kummer" hat Horn nach einem Shakespeare-Zitat getextet: "Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht." Die Trompete flattert, und überhaupt die beiden Bläser: Glöbl, der vor Freude strahlt und so tut, als wären diese anspruchsvollen Soli nichts als ein großer Spaß. Mit Verve lässt er seine Trompete jaulen, peitscht sie in einen fiebrigen Rausch, tritt mit Riedls Bassklarinette in einen Dialog - aufwühlend und so voller Energie, dass sich die Leute kaum mehr auf den Stühlen halten können. Sie pfeifen, klatschen und sind außer sich vor Begeisterung. "Die kleinste Bläsersektion der Welt, aber die beste", sagt Baumann.

Oder die bombastische Rockballade "Der Sturm", die Baumann für das Nockherberg-Singspiel 2016 komponiert hat. Seit dem 26. August 2023, als das Hagelunwetter im Südlandkreis wütete, "bewegt mich dieses Lied noch mehr", sagt Horn, der in Lenggries lebt. Bewegend ist auch "Das Lied vom unbekannten Soldaten", das durch den Ukraine-Krieg eine bedrückende Aktualität bekommen hat. Angesichts der unverändert entsetzlichen Nachrichten stelle sich ein Gewöhnungseffekt ein, "eine Normalität in der Bestialität", die nicht sein dürfe, sagt Baumann. Das getragene Lied aus der Sicht eines gefallenen Soldaten, das Horn in nüchterner Ludwig-Hirsch-Manier vorträgt, schildert eindringlich die Sinnlosigkeit und Perversität jeden Krieges: "Der, der mi daschossen hat, woaß ned amoi wia i hoaß." Es sei ein "Friedensgebet, verknüpft mit der Hoffnung, "dass es irgendwann besser wird", sagt Baumann ungewohnt ernst.

Seine Rolle ist eigentlich die des leichtfüßigen Dada-Dichters. Ein Konzert ohne seine abgedrehten Geschichten wäre nicht vollständig. Und so kommt das Publikum in den Genuss eines verstörenden Einzeilers: "Ein Schaf fragt sich inmitten einer Herde: Warum sind eigentlich alles andre Pferde?" Irgendwann ist Schluss an diesem wunderbaren Abend, der mit dem "Deifidanz" endet, zwei heftig erklatschten Zugaben und Standing Ovations. "Wenn ich dahoam spui, bin i immer nervös", gesteht Horn. "Danke euch, dass das so ein geiler Abend geworden ist." Wir haben zu danken.

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