Traditionsgeschäft:Der Hoflieferant möge bleiben

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Die Geschichte des Juweliergeschäfts Carl Thomass am Marienplatz reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Nach langen Verhandlungen mit der Stadt kann der neue Mieter am traditionsreichen Ort weitermachen

Von Wolfgang Görl

Eine Geschichte über ein alteingesessenes Geschäft in der Altstadt hat meistens die Form eines Nachrufs. "Wieder verschwindet ein Stück Tradition" steht da in der Regel im Titel - und es ist ja auch wahr: Viele, all zu viele Läden, die einzigartig waren und typisch für München, sind schon verschwunden. Aber diesmal ist es anders. Diesmal gibt es keinen Räumungsverkauf mit der Plakatierung "Alles muss raus!" Diesmal geht es weiter.

Die Rede ist vom Juweliergeschäft Carl Thomass am Marienplatz. Es hätte schief gehen können, nachdem sich Inhaber Erich Jocher entschlossen hatte, in den Ruhestand zu treten. Zwar stand ein Nachfolger bereit, doch die bange Frage war: Welche Pläne hat die Hauseigentümerin, die Stadt München? Sie könnte die Ladenflächen ja einem anderen Interessenten vermieten oder so viel Miete verlangen, dass Jochers Nachfolger dem sicheren Ruin entgegentreiben würde. Aber das ist nicht passiert. Langwierige, zähe Verhandlung, die gab es schon, am Ende aber war das Juweliergeschäft im Herzen der Stadt gerettet. Hilfreich war nicht zuletzt ein Stadtratsbeschluss zum Thema "Vermietung städtischer Ladenflächen", in dem es unter anderem heißt: "Diese Geschäfte, die häufig seit vielen Jahrzehnten und Generationen die Altstadt prägen, tragen zum Flair der Innenstadt bei. Ihnen soll die Fortführung des Ladens ohne Ausschreibung ermöglicht werden, auch wenn eine gesellschaftsrechtliche Umwandlung beim Mieter erfolgt. Entscheidend ist, dass die Identität fortgeführt wird und nach außen hin die gleiche Art und Weise im Auftritt zu erwarten ist."

Tja, was soll man sagen? Die städtische Grundsatzerklärung passt genau auf den Juwelier Thomass. Und auf Werner Blessing, der den Laden gemeinsam mit seiner Frau Sibylle Blessing-Nagler übernommen hat. An diesem Nachmittag sitzen die beiden an einem der kleinen Tischchen im Verkaufsraum, dessen Wand hinter der Ladentheke ein Relief mit galanten Damen und Herren ziert, deren vergoldeter Schmuck auf dem bleichen Stuck glänzend hervorsticht. Blessing ist hier so gut wie zu Hause, viele Jahre hat er unter Jochers Ägide als Goldschmiedemeister gearbeitet. Und nun ist er der Chef, der Boss, der Inhaber. Der achtzigjährige Erich Jocher, der sich wenig später hinzugesellt sagt: "Meine Sorge war, aufzuhören und das Geschäft schließen zu müssen. Und ich wollte den Juwelier Thomass erhalten, der so lange an diesem Platz war." Was lag da näher, als den eigenen Goldschmiedemeister zum Nachfolger zu küren?

Blessing stammt aus Schorndorf im Remstal, er kam 1986 nach München, hat hier die Meisterschule absolviert und danach beim Juwelier Thomass angefangen. Er ist keiner, der mit hochtrabender Künstlerattitüde posiert, im Gegenteil: Blessing ziert sich fast, wenn er nach seinem Stil gefragt wird. Da muss schon seine Gattin assistieren: "Werner macht ganz klassische, geradlinige Schmuckstücke, bei denen alles stimmt." Mit dieser Beschreibung kann Blessing gut leben, das passt, und jetzt lässt er sich doch noch zu einem Selbstbekenntnis hinreißen: "Ich möchte handwerklich hochwertigen Schmuck anfertigen, im klassischen Stil und solide gemacht."

So dürften es auch seine Vorgänger gehalten haben, in der bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden Reihe der Goldschmiedemeister, die mit dem Geschäft verbunden sind. Es begann in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1832, als Meister Jeremias Neustätter für 850 Gulden eine Goldschmiedekonzession erwarb. Zunächst befand sich der Betrieb in der Löwengrube, später zog Neustätter in die Kaufingerstraße, ehe er sich um das Jahr 1837 am Schrannenplatz 29, dem heutigen Marienplatz, niederließ. Neustätter und sein Sohn warben für ihr "bestens assortiertes Lager von Juwelen, Goldwaren, Korallen, Granaten, Perlen, Silber und anderes mehr". Offenbar lief der Laden prächtig, denn sie stellten auch einen Lehrling ein: Carl Johann Thomass, Sohn eines Säcklermeisters in Memmingen.

Die neuen Inhaber Werner Blessing und Sibylle Blessing-Nagler führen die Tradition des einst auch am Hof beliebten Juweliergeschäfts Thomass fort. (Foto: Florian Peljak)

Das alles hat Sibylle Blessing-Nagler recherchiert und aufgeschrieben, nicht zuletzt, weil sie wissen wollte, welche Geschichte das Geschäft hat, das sie jetzt mit ihrem Mann führt. Die Berufsbezeichnung "Juwelier", so hat sie herausgefunden, taucht in München erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert auf. Gemeint war damit ein Goldschmied, der kostbare Steine zu Geschmeiden zusammenfügte. Goldschmiede gab es selbstverständlich schon früher in der Stadt, im Jahr 1370 beispielsweise sind zehn dieser Gewerbebetriebe verzeichnet. Die Konzession, die sogenannte Gerechtsame, wurde in alter Zeit getreu dem Zunftrecht normalerweise an den Sohn vererbt, beim Tod des Konzessionsinhabers fiel der Betrieb an die Witwe, die damit zu einer begehrten Heiratskandidatin wurde. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Zunftzwang abgeschafft, der Kampf um vollständige Gewerbefreiheit zog sich aber noch lange hin. Was nun Neustätters Neuerwerbung, die Gerechtsame für die Goldschmiedewerkstatt, betrifft, hat sie ihre Wurzeln im 17. Jahrhundert. Damals, anno 1681, hatte ein Sebastian Sattler die Konzession zur Ausübung des Goldschmiedehandwerks erhalten und sich in der Äußeren Schwabingergasse (heute Residenzstraße) niedergelassen. Diese ging im Laufe der Zeiten durch diverse Hände, bis sie schließlich bei Neustätter ankam. Besonders lang aber blieb sie nicht bei dem geschäftstüchtigen Goldschmied und Schmuckhändler.

Im Juli 1848, dem Jahr, in dem König Ludwig I. abdankte, verkaufte Neustätter die Konzession an seinen 24-jährigen Gehilfen Carl Thomass. Zwischenzeitlich war dieser, wie bei Handwerksburschen seinerzeit üblich, einige Jahre auf der Walz gewesen, und nach seiner Rückkehr sah er sich in München gleich mal nach einer Frau um - mit Erfolg, nicht zuletzt was die pekuniäre Seite anging. Thomass heiratete Ursula Holzapfel, die Tochter eines reichen Schäfflermeisters, und die brachte offenbar genug Geld in die Ehe, um die stattliche Ablösesumme von 4500 Gulden für den florierenden Betrieb seines Prinzipals zu bezahlen. Neben selbst gefertigtem Schmuck bot Thomass auch zugekaufte Galanterie- und Bijouteriewaren an, handelte zusätzlich mit Immobilien und erwarb unter anderem zwei Häuser am Marienplatz. Carl Thomass war aber auch ein politischer Kopf, er saß als Abgeordneter der linksliberalen Fortschrittspartei im Landtag und wirkte im Münchner Magistrat mit. Zudem gehörte er zu den Mitbegründern der Münchner Trambahngesellschaft und der Dampfschifffahrtsgesellschaft Würmsee.

Juwelier Carl Thomass im Alter von 90 Jahren. (Foto: Stadtarchiv)

Ursula und Carl Thomass hatten sieben Kinder. Die älteste Tochter Anna heiratete den Silberschmied Max Carl Weisshaupt aus der Dienerstraße und war nach dem frühen Tod ihres Mannes ebenfalls höchst erfolgreich als Unternehmerin in Sachen Schmuck tätig. Das väterliche Juweliergeschäft aber führte ihr Bruder Carl Otto August Thomass weiter, der am 7. Dezember 1899 von "Seiner Königlichen Hoheit Prinz Ludwig von Bayern" zum Hoflieferanten ernannt wurde. Der Titel brachte nicht nur Ansehen und Ehre, sondern er diente auch als Aushängeschild, das noble und zahlungskräftige Kunden anlockte.

Einen anderen Weg schlugen Ludwig und Eugen Thomass ein, die Brüder des königlichen Juweliers: Sie konzentrierten sich aufs Biergeschäft, kauften zunächst das kleine Münchner Bräuhaus am Kapuzinerplatz und bauten die Braustätte clever aus, so dass sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg rund 300 Beschäftigte hatte. "Thomasbräu" war der Name der beliebten Biermarke. Die Brüder Thomass hatten dabei einfach auf ein "s" verzichtet, vermutlich in der Hoffnung, dass Münchens frommen Trinkern der Name des heiligen Thomas und somit die Tradition der Klosterbrauereien in den Sinn kommen möge.

Da Carl Thomass junior kinderlos starb, übernahm sein jüngster Bruder Friedrich Anfang der Zwanzigerjahre das Juweliergeschäft. Seine Interessen lagen jedoch mehr auf einem anderen Feld, schreibt Sibylle Blessing-Nagler: "Offenbar jedoch lag ihm das unternehmerische Denken und Handeln nicht so am Herzen wie gesellschaftliche Ereignisse, Spielcasinos und Feiern. Die Erfolge blieben aus, und Immobilien, auch die am Marienplatz, mussten schließlich schon in den Dreißigerjahren verkauft werden." Seiner Frau Maria gelang es immerhin, das Juweliergeschäft am angestammten Platz wiederzubeleben. Als sie 1986 starb, erlosch der Juwelierzweig der Familie Thomass.

Laden und Werkstatt am Marienplatz aber blieben. Goldschmiedemeister Erich Jocher übernahm das Geschäft - und gibt jetzt den Stab an Werner Blessing weiter. Noch immer steht "Hofjuwelier" über dem Schaufenster. Mitunter lockt das Kunden mit Adelshintergrund an, aber auch Touristen. Werner Blessing glaubt zu wissen, was Kunden aus Russland, China, Schweden oder arabischen Ländern reizt: "Sie wollen Tradition mit nach Hause tragen."

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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