Hanser-Chef Jo Lendle steuert vor dem Festsaal in der Akademie auf Norbert Gstrein zu, ruft "da ist er ja, der Star" und schließt ihn herzlich in die Arme. Eine Geste, lange nicht mehr gesehen, lange nicht mehr erlaubt. Doch jetzt wird alles nachgeholt. Auch die Verleihung des Thomas-Mann-Preises an den österreichischen Schriftsteller, die im vergangenen Jahr coronabedingt ausfiel. Der Verleger freut sich, und Gstrein, solche Anlässe gewohnt, weiß, dass das nunmal dazu gehört. Er wird auf subtile Weise gleich noch darauf Bezug nehmen.
Aber vorher kommen die Laudatio und die Urkunde. Die Stadt Lübeck und die Bayerische Akademie der Schönen Künste verleihen den Thomas-Mann-Preis gemeinsam, mal in Lübeck, mal in München. Präsident Winfried Nerdinger bittet also die Akademiemitglieder und Gäste - wie immer in diesem Hause eher männlich, eher silberhaarig - in den Festsaal und beginnt schon mal mit der Begrüßung, obwohl die Hauptperson noch gar nicht Platz genommen hat. Da schleicht Norbert Gstrein auf leisen Sohlen in die erste Reihe und hört aufmerksam zu.
Der Tiroler, der in Hamburg lebt, wurde im vergangenen Jahr 60 Jahre alt. Was er davon hält, lässt sich aus den ersten Sätzen seines jüngsten Romans "Der zweite Jakob" ablesen. "Natürlich will niemand sechzig werden, jedenfalls nicht als Jubilar, und natürlich will niemand, der bei Sinnen ist, ein Fest, um das auch noch zu feiern, aber obwohl ich alles darangesetzt hatte, es zu verhindern, war ich in die erwartbaren Abläufe geschlittert und musste mich am Ende vielleicht wirklich als bedeutender Künstler ... ganz nach dem Geschmack des Publikums wie ein Pfau ausstopfen und vorführen lassen."
Nein, betont sein Laudator, der Literaturprofessor Friedhelm Marx. Das wird hier ganz sicher nicht passieren. "Von schiefem Lob und klebrigen Huldigungen ist in den Romanen Norbert Gstreins einiges zu lesen - das macht meine Aufgabe heikel", gibt er zu. Auf keinen Fall wolle er in die Rolle des Bürgermeisters verfallen, der am Ende von "Der zweite Jakob" eine Festrede hält mit der Einleitung "Wir ehren heute einen großen Tiroler und Kosmopoliten".
Natürlich sei Gstrein auch das, Tiroler und Kosmopolit, vor allem aber ein exzellenter Beobachter. Seine Romananfänge eröffneten ein ganzes Panorama. Störfälle der Geschichte bildeten den Ausgangspunkt: die Balkankriege der 1990er Jahre, die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen, Fremdenhass oder der Terror entlang des Grenzzauns zwischen den USA und Mexiko, wie im jüngsten Roman. Und die Romanenden seien jeweils eine Aufforderung, weiterzudenken. Seine "exzentrischen Erzählerfiguren kommentieren ihre eigene Erzählung, die Geschichte, die sie aus ihrem Leben gemacht haben, sie misstrauen sich selbst."
Nicht wie ein Pfau, vielmehr mit verschränkten Armen steht der Geehrte dann da, als Nerdinger und Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau ihn würdigen und ihm einen Scheck über 25 000 Euro überreichen. Der Schriftsteller bedankt sich mit einer brillanten Reflexion über Thomas Mann und die Rolle der Kunst. Fragt, ob wir, wenn wir vom Künstler sprechen, "einen für das Leben besonders Zuständigen meinen oder einen Unzuständigen, der uns gerade in seiner Unzuständigkeit etwas über das Leben zu sagen vermag." Ob Erfolg bedeute, das man ständig der Verlockung widerstehen müsse, "sich selbst nach diesem Bild zu schaffen". Und was es bedeute, ein Werk zu haben, nämlich "dass man sein Leben dafür eingesetzt hat".
Mit Manns Novelle "Herr und Hund" endet die Betrachtung. Der Hund weigert sich beharrlich, über ein Stöckchen zu springen, das ihm hingehalten wird. Er könnte Vieles tun, so Gstrein, höher springen, das Stöckchen reißen oder seinem Herrn ins Bein beißen. Alles keine Kunst. "Wirklich Kunst wäre es, der Hund zu sein und ohne Stock zu springen, womit sich auch die leidige Frage nach dem Künstler erledigt hätte." Norbert Gstrein ist weder Pfau noch Hund im Literaturbetrieb. Er behält die Regie, in jedem Falle.