Tassilo:Improvisario der Wohnzimmer

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Titus Waldenfels ist Musiker, Kulturinitiator und -motivator. Sein Reich sind kleine Bühnen, auf denen er Künstler und Stile gern mal in mutigen Melangen zusammenführt. Das gilt auch für seine Haus-Konzerte aus der Schwanthalerhöhe

Von Andrea Schlaier

Überströmend: Aus seinem Wohnzimmer streamt Titus Waldenfels alle paar Tage seine Kunst und wird dabei regelmäßig begleitet von Gästen aus Musik, Kultur und der eigenen Nachbarschaft. Sein Publikum ist ihm während der Pandemie treu geblieben. (Foto: Yoav Kedem)

Strahlend blauer Winterhimmel, das Fenster ist sperrangelweit auf, oben im vierten Stock des Genossenschaftsblocks, der backsteinerne Glockenturm der evangelischen Auferstehungskirche gegenüber zum Greifen nah. Wenn sich auf einer E-Gitarre schrammeln lässt, dann ist es genau das, was Titus Waldenfels ordentlich verstärkt gerade von hier unterm Dach aus macht. Und Hans Kröll trompetet dazu: "Azzuro" und - sichtlich vergnügt - auch den "Schneewalzer"schicken die Musiker hinaus aus dem Fenster und hinunter zur Schlange der Ausgabestelle der Münchner Tafel im Kirchenhof. Die Wartenden heben den Kopf, suchend, lächelnd, andere nehmen auf der Bank an der Gollierstraße Platz und lauschen. Mehrfach haben die beiden im vergangenen Pandemiejahr ihre Kunst hinausgeströmt und gesammelt für den guten Zweck, die Münchner Tafel. Gesendet direkt aus Titus Waldenfels' Wohnzimmer. Das ist 2020 nun auch wörtlich zu seiner Bühne geworden, die er teilt mit Kolleginnen und Kollegen, bekannteren und unbekannteren, in sich munter kreuzenden Genres. Waldensfels' Lebensprinzip ist in den vergangenen zwölf Monaten zu seinem Überlebensprinzip geworden.

Seit bald 30 Jahren lebt der Münchner inzwischen im Westend und wenn hier alle Daumen lang Galerie- und Ateliertüren aufspringen, Kunst und Kultur und, ach, das Leben in der Schwanthalerhöhe gefeiert wird, sitzt er unter Garantie schon da, der Country-, Swing- und Jazzmusiker, mit Banjo, Mandoline, Steel Guitar, Geige und was nicht alles. Immer wieder auch selbst als Gastgeber, lange beim "Open Mic" in der "Realwirtschaft Stragula", wo sich nicht nur arrivierte Profis, die Lust auf ne zünftige Mucke hatten, anstöpselten, sondern auch jeder, der sich traute, einmal im Monat 15 Minuten Aufmerksamkeit zu erregen. Alles war dabei, von Oper bis Metal. Im Nachbarbezirk schmeißt der Mann mit den prächtigen rotbraunen Koteletten aktuell die monatliche Folk Session in der Glockenbachwerkstatt.

"Titus Waldenfels ist als Musiker ein großer und großartiger Kulturinitiator und -motivator", hat ein Leser der SZ geschrieben, und den 52-jährigen für den Tassilo-Preis vorgeschlagen. "Er ist in sehr vielen Genres unterwegs und oft Bindeglied zwischen Künstlern aus ganz verschiedenen Bereichen und Branchen." Seine eigene Karriereleiter oder finanzielle Vergütung, meldet sich eine andere, stelle Waldenfels nicht in den Vordergrund. Mit seiner "einzigartigen Leidenschaft für kleine Clubs und Bühnen" leiste er in der Münchner Kleinkunstszene einen besonderen Beitrag für die Live-Kultur. Schließlich sein soziales Engagement, "selbst in diesen Zeiten": Mal ist es die Seenotrettung, mal ein Anschub für die letzte Münchner Bluesbar, das Hide Out an der Volkartstraße.

Als Titus Waldenfels bei einer Tasse Tee in seiner Wohnküche die Auszüge aus den Lobesbriefen vorgetragen bekommt, lacht er sein hohes Lachen. Er freut sich. "Mir waren immer drei Dinge am wichtigsten: Musik quasi im Gehen zu machen und jeden Tag zu spielen." Und das, zweitens, mit einer "Vielzahl an Leuten"; drittens, das Wirken in der "Community", dem Stadtteil. "Westend people" heißt seine neueste Reihe, eine Stunde lang unterhält sich der Musiker mit einem Menschen, der im Westend lebt, arbeitet oder von hier stammt. Luise Kinseher saß schon genauso im seinem Wohnzimmer wie die Blumenfrau, die ihren Laden eine Ecke weiter hat. Der hiesige Bezirksausschuss unterstützt diese wie viele andere Waldenfels'sche Initiativen.

In pandemiefreien Zeiten war er bald jeden Tag unterwegs, auch im europäischen Ausland, gern auch mal in Texas, die Bühnen stets übersichtlich. Seit März 2020 konzentriert er sich zwangsläufig wieder auf München. "Musikalisch hab' ich mein Leben lang Wohnzimmerkonzerte gemacht, in Rockbands gespielt, am Theater, aber immer ganz viel im Duo und Trio in kleinen Räumen." Der studierte Germanist und Musikwissenschaftler, der mit sieben Jahren Geigenunterricht bekommen hat und als Jugendlicher auf die Gitarre umgestiegen ist, eignete sich zig verschiedene Instrumente von der Mandoline bis zum Foot-Bass an und entwickelte in den letzten Jahrzehnten ein sagenhaft breites Repertoire, Schwerpunkt Country, Swing, Folk, Jazz, gern verwoben mit bayerischem und deutschen Liedgut. "Ich sing' selber ja nicht und lad' mir dafür dann oft jemanden ein." Sein Stil-Crossing ist legendär, wie unlängst in der Glockenbachwerkstatt, als Waldenfels wilde Genre-Mixturen anzettelt, die irgendwie aufgehen: Sopranistin Monika Lichtenegger singt Weill, Ardhi Engl begleitet mit seinen selbstgebauten Instrumenten, Gitarrist Saschmo Bibergeil und Waldenfels zupfen sich eins dazu.

Seinen Streams haftet immer etwas Unperfektes an, Rumstöpseln vor laufender Kamera. "Ich hab mich selbst in die Technik reingefuchst, learning by doing." Da ist Titus Waldenfels großzügig. Ohne Impro wär's schließlich nie gegangen. Als Vater von drei inzwischen erwachsenen Kindern war er viele Jahre "zur Hälfte Hausmann". Und musste Klinken putzen. "In den 90er Jahren hatte ich keine Studentenpeergroup, keine Empfehlungen. Mir haben damals einfach ältere Musiker aus dem Umfeld von E mbryo und der Blues-Szene gesagt, komm, spiel' mit." Er habe diese Hilfe bekommen, als er sie sehr gebraucht hat, "und das möchte ich wirklich weitergeben." Es wurde sein Prinzip.

Mit Beginn der Pandemie ist die Kette von kleinen Auftritten bei Waldenfels von hundert auf Null gefallen. "Ich hab' sofort angefangen zu streamen, die Leute, die mit mir spielen, sind mir geblieben. Und das Publikum auch." Wenn er das Fenster seiner Wohnung sperrangelweit öffnet und loslegt, setzt sich unten auf der Straße wenigstens einer auf die Bank und schaut zu ihm rauf.

Wenn Sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten vorschlagen wollen, schreiben Sie bitte bis 30. April eine E-Mail an tassilo@sz.de.

© SZ vom 30.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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