Wie Molekülketten mäandern die Tänzer durch den Raum. Gelegentlich kappt einer oder eine von ihnen den Link zwischen zwei Kollegen, fließt in die Lücke oder taucht - von den anderen gehalten - zwischen zwei fremden Beinen ab. So beginnt die Deutschlandpremiere von Alexander Vantournhouts "Foreshadow", das sich stetig zu einem Spektakel zwischen Partnerakrobatik Handstandequilibrist und Klettertricks hin entwickelt, wenn auch ganz ohne Tata und Tusch.
Dass die acht Bewegungskünstler und -künstlerinnen "not standing" heißen, ist Programm. Still steht nur der neunte Partner: eine Wand, die die Bühne der Muffathalle begrenzt und zugleich in die Vertikale erweitert. Ob es darum geht, sie in immer groteskeren Räuberleiter-Varianten zu überwinden, und wenn ja, warum und wohin, solche Fragen geraten zur Nebensache an dem Abend, der die diesjährige Tanzwerkstatt Europa eröffnet hat. Es dominiert die Bewunderung für Fitness und Körperbeherrschung der Performer - passend für ein Festival, das sich in erster Linie als Begegnungs- und Trainingszentrum der zeitgenössischen Tanzszene versteht. Und dennoch irritiert das scheinbare l'art pour l'art in politisch hochexplosiven Zeiten.
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Dass das architektonische Maßnehmen aneinander und das Beharren auf der Bedeutung von Berührungen für das interpersonale und systemische Gleichgewicht durchaus politisch sein können, hat Vantournhout in seinem 2022 eingeladenen Pas-de-deux "Through the Grapevine" selbst schon viel klarer gemacht. Dessen Kraft lag auch in der Konzentration, während man sich beim zu oft neu ansetzenden "Foreshadow" beim Ruf nach der Dramaturgie ertappt. Die vermisst man auch bei Anania Danses, Marokkos erster zeitgenössischer Tanzgruppe, deren Kopf Taoufiq Izeddiou ursprünglich vom Boxen kommt.
"Border_Line" beginnt stark in der Reduktion, dem Abschreiten der Ränder des quadratischen Spielfeldes, franst aber zunehmend aus. Davon, dass es um Grenz- und innere Blockaden geht, vermittelt sich ohne Vorabinformation wenig. Hängen bleibt das Bild von drei Tänzern und einer Tänzerin aus Marrakesch mit ihren individuellen Herangehensweisen an den Tanz. Wenn deren Körper einander begegnen, kollidieren auch Stile und Traditionen.
Welche Körper wir auf der Bühne sehen, ist eine der Leitfragen in der ersten Festivalhälfte, zu deren Abschluss Markéta Stránská & Charlie Morrissey in ihrem nur knapp halbstündigen "Scáling" demonstrieren, was Partnerarbeit bedeutet. Die einbeinige Performerin, Choreografin und Physiotherapeutin aus Tschechien und der Achtsamkeitsprofi aus Great Britain begegnen sich zunächst mit Blicken, bieten einander Handbewegungen an wie Fragen, auf die die Antwort auch ausbleiben darf - und rollen schließlich gemeinsam über die Bühne des Schwere Reiter. Weniger smooth und fließend als die Kollegen aus Belgien. Doch dass man das Rumpeln noch sieht, das das Immer-wieder-neu-Austarieren von Regeln und Bewegungen zwischen zwei Menschen mit sich bringt, macht diese kurze Etüde entwaffnend ehrlich.
Kleine Formate sind Usus bei Walter Heuns Tanzwerkstatt. Dass die Gewinnerin des Publikumspreises beim Münchner "Hier=Jetzt"-Nachwuchsfestival ein Solo zeigt, ist neu. Mit dem unermüdlichen Engagement seines Leitungsduos Birgitta Trommler und Johanna Richter und den Finanzen der Norbert-Janssen-Stiftung konnte Cola Ho Lok Yee ihr Stück "Emma's Jaw" um eine Tisch-Szene über die Symmetriebesessenheit ihrer Mutter erweitern. Kein szenisches Detail, kein Wort ist überflüssig in der Performance der jungen Tänzerin aus Hong Kong, in deren Zentrum der Freitod ihrer Freundin steht.
Vom lakonischen Reenactment einer ungewöhnlichen Selbstmord-Methode bis zur Wut über das Zurückgelassenwerden gelingt ihr ein so intimes wie kraftvolles Stück, das gemeinsam mit Daria Kovals "Рух Oпору - Resistance Movement" einen stimmigen Doppelpack zum Thema Traumabewältigung ergibt. Die 27-jährige Ukrainerin war im Mai beim Festival Dance in Maciej Kuźmińskis gefeiertem "Every Minute Motherland" zu sehen. In ihrem Solo legt sie die Kleidung, die sie auf der Flucht getragen hat, ab, um barbusig in einen langen Rock und die tänzerischen Traditionen ihrer kriegsgebeutelten Heimat zu schlüpfen. Ein athletischer, eruptiver Versuch, den Schmerz wegzutanzen, der sich nicht wegtanzen lässt!
Eine Einladung zum Urgrund der eigenen Traurigkeit hinabzutauchen
Jefta van Dinthers Performer sind längst schon jenseits von Schmerz und Wut. "Lasst alle Hoffnung fahren!", könnte über dem Eingang zur Freiheitshalle stehen, in der "Unearth" weniger gesehen als erlebt werden will. Zerfetzte Gestalten in schweren Stiefeln spinnen die mitten unter ihnen sitzenden Zuschauer in eine Zeremonie ein, die vor allem auf der akustischen Ebene fasziniert. Vielstimmige Choräle wiederholen und verfremden traurige Textzeilen wie "I'm grinding until I die" oder "Dear lord, you took so many of my people ..." in Endlosschleife.
Mit ihren federnden Schritten und hängenden Armen wirken die Gerade-noch- Überlebenden irgendeiner Apokalypse primatenähnlich, wenn sie auf allen Vieren durch den Raum schleichen, raubkatzengleich. In rätselhaften Zwangshandlungen scheinen Ernte- und handwerkliche Tätigkeiten wie Pflücken, Nähen, Plätten überlebt zu haben. Ein besseres Morgen ist nicht in Sicht. Die ein oder andere Leidenspantomime wäre verzichtbar gewesen. Als Einladung an alle, inmitten dieser hypnotischen Performance zum Urgrund der eigenen Traurigkeit hinabzutauchen, ist "Unearth" außergewöhnlich gelungen.