SZ-Serie: München erlesen:Mensch ist Mode, Realität ist Rausch

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In das München der frühen Achtziger führt Christopher Roths Roman "200 D". (Foto: amw/SZ Photo)

Zwei Romane, die den Zeitgeist konservieren: Christopher Roths "200 D" und Lukas Kubinas "Cerebro Frito".

Von Christian Jooß-Bernau

Zwischen zwei Kapiteln hat er offensichtlich die Nacht mit ihr verbracht. Mit "DOROTHE" - wie alle Namen in Versalien. Aufgegabelt hat er sie im Sugar. Am Ende einer "Tour der Leiden", die mit Susi im Boot begann und (ohne Susi) weiterführte ins Why Not. Sonntagmorgen mit Dorothe also, im Café neben dem ABC-Kino: "Ihre Augen sind grün, auch weiß ich, daß sie grüne Socken anhat. Und was weiß sie von mir?" Nach hundert Seiten denkt man sich den Sound dieser Sprache dazu. Ohne Subtext. Ohne emotionalen Überbau. Bestandsaufnahme.

"200 D" heißt der Roman von Christopher Roth, erschienen 1982, vergessen 1982 und 2012 wiederaufgelegt. Ein Ich-Erzähler schließt beim Automarkt im Autokino in der Dachauer Straße einen Handschlagvertrag über einen Mercedes 200 D mit Herrn Gräbe ab. Im Friseursalon in der Sternstraße 14 lässt er sich von Angelika die Haare machen. "Sie brauchen eine Spülung. Ihre Haarspitzen sind stark strapaziert", sagt Angelika. "Ich erkläre ihr alles. Die Deckhaare länger lassen. An den Ohren und hinten Facon." Frisch frisiert fährt er mit dem Motorrad durch das München des Jahres 1982.

Bei Lorenz S hängen Fotos aus den KZs Dachau und Buchenwald an der Wand, was als brutales Irritationsmoment ebenso stehenbleibt wie ein Wort wie "Onkel-Tom-Negermama". Der Leser sieht Oberfläche. Eine literarische Illusion der Annäherung an die Realität, die zwischen Satz und Sein jede Kunst kunstvoll getilgt hat. Stehend vor den Eingang des Fuchsbaus in Schwabing übermittelt der Ich-Erzähler die Namen auf den Klingelschildern. Alle. Es dauert vier Seiten. Vorbeifahrt am Marmorhaus: Festgehalten sind sämtliche Filmtitel der Kinos A bis F. Das Impressum auf Seite 2 der Abendzeitung: wird abgedruckt. Und selbstredend werden beim Abstellen des Motorrades vor einem Discounter die Plakate mit aktuellen Angeboten und Preisen referiert.

1982, also im Jetzt des Romans, muss es einem vorgekommen sein, als sei jeder Reibungswiderstand zwischen Text und Welt aufgehoben. Und die Frage, für was man sich hier interessieren soll, war möglicherweise nicht leicht zu ergründen. 40 Jahre später liest sich das wie tiefgefroren aufgeschnittene Zeit, goutiert man die immer detailverliebten Beschreibungen der Outfits von Personen, die dem Ich-Erzähler jede Charakterbeschreibung ersetzen. Mensch ist Mode. Diesen filmischen Blick hat Roth drei Jahre später auf der Münchner Filmhochschule intensiviert, hat unter anderem 2002 "Baader" gedreht, nominiert für den Goldenen Bären, hat für Theater gearbeitet, als Bildender Künstler, hat unterrichtet.

Das Buch von Christopher Roth (Bild) erschien erstmals 1982. (Foto: Andrea Rosetti)

2018 erscheint Lukas Kubinas "Cerebro Frito", ein Roman im München 2015, bei Sorry Press, einem Verlag, den Kubina mitgegründet hat. Ein alter "200 D" steht da auf einer Seite in einer Straße. Nur so als kleiner Hinweis für die wenigen Eingeweihten. Denn "Cerebro Frito" ist so etwas wie die Übersetzung des Roth-Romans in eine andere Zeit. Die Handlung ist ähnlich übersichtlich: Junge Menschen aus dem studentischen Milieu planen und feiern eine Absturzparty an der Isar. Und am Abend darauf schläft der Ich-Erzähler im Hinterhof Isabellastraße 5 ein. Was in "200 D" die Klamotten, ist in "Cerebro Frito" der Rausch. Viel harter Alkohol, Koks und ein bisschen LSD. In einer Parallelwelt ist Filmfest, was nur erwähnenswert ist, weil die Party unterhalb der Lukaskirche auf dem Kies steigt. In einer Parallelwelt ist auch was mit Flüchtlingen.

Aufgefüllt wird der Text kunstvoll wurschtig mit wikipedisiertem Münchenwissen zu Sehenswürdigkeiten und einer Art Hauptseminarmetaebene, wie man sie halt mit zwei Promille so hinbekommt. Diesen Ton trifft Lukas Kubina subtil bösartig. Und wie bei Roth ist es die sorgsam vermiedene Tiefe, die tief blicken lässt in diesen Erzähler. Die Stadt ist Kulisse fürs Ich. Inszeniert ist das, wie "200 D", als passiv aggressiver Gegenpol zu Haltung und Bedeutung und könnte damit genau das erzeugen ... oder auch nicht. Auf jeden Fall ist auch "Cerebro Frito" der literarische Versuch, ebenfalls mittels Auflistung aller Namen der Partygäste etwas wie Echtzeit im Roman zu erzeugen. Was gelingt, ist aus der Rückschau aus dem langen Pandemiewinter 2020/2021 heraus ein irres Zeitkapselgefühl, so intensiv und klebrig wie ein verschüttetes Glas Mojito.

Konserviert sind in beiden Romane Phänotypen, die dem Zeitgeist entspringen. Ähnlich sind sie sich in ihrer emotional sparsamen Haltung zur Umwelt. In "200 D" wird ein anscheinend schwerer Autounfall im Vorbeifahren interessiert notiert. Mit einem Hauch emotionaler Beteiligung referiert wird dagegen oft Wissenswertes aus dem Leben Rudolf Diesels. In "Cerebro Frito" ist einer der aufwühlendsten Momente der, als der Ich-Erzähler mit ordentlich Pegel die Pin falsch in sein Handy eingibt. Schließlich gelingt es: "Was für ein Gefühl."

Christopher Roths Roman erschien noch ein Jahr vor Rainald Götz' "Irre". Hier spürt man die Wucht des Pioniers einer neuen Form von Popliteratur. Die Beschreibung der Schönen und Erfolgreichen hat den Blick des Schmetterlingssammlers mit Chloroform und Nadel. Die Filmmenschen Klaus L und Bernd E kann wiedererkennen, wer mag. Bei der zweiten Begegnung hat letzterer den "Arm um die Schulter eines beneidenswert schlanken Mädchens gelegt". Und Roth, dessen Pose ja die absolute Kunstlosigkeit ist, gelingen Sätze, die alles sind: Zeitpulsmesser in ästhetischer Perfektion: "Ich starre sie an. Sie sieht krank aus. Das ist Luxus." Bevor der Ich-Erzähler in seinen Diesel steigt und davonfährt, bekommt Dorothe noch eine ordentliche Ohrfeige. Aus heiterem Himmel. "Jetzt weiß sie etwas von mir."

Christopher Roth: 200 D , Berlin Verlag Taschenbuch, 160 Seiten; Lukas Kubina: Cerebro Frito , Sorry Press, 138 Seiten

© SZ vom 03.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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