Journalistische Herausforderung:Wie schreibt man über Eltern, deren Kind im Sterben liegt?

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(Foto: Christoph Soeder/dpa)

Reporterinnen und Reporter der SZ berichten von berührenden und mitunter emotional belastenden Besuchen bei Menschen.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Schwarzer Kaffee, ohne Zucker

Johanna Feckl. (Foto: Andreas Zitt, oh)

Mittlerweile habe ich 16 Gespräche für den SZ-Adventskalender geführt, der nun SZ Gute Werke heißt. An jedes der Treffen kann ich mich sehr genau erinnern. Wo sie stattgefunden haben. Wie es dort aussah. Wie es dort roch. Welches Getränk mir angeboten wurde. Und an die Menschen, die mir ihre Lebensgeschichte anvertrauten. Normalerweise kehre ich nach einem Termin an meinem Schreibtisch zurück, blättere meinen Notizblock noch einmal durch und beginne dann zu schreiben. Nach einem Adventskalender-Besuch kann ich das nicht. Auch nicht nach dem 16. Mal. Ich muss die Gespräche erst einmal sacken lassen. Versuchen, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Damit ich dann in der Lage bin, einen einfühlsamen Text zu schreiben, der dem Menschen und seinem Schicksal hoffentlich gerecht wird.

Bei meinem 13. Adventskalender-Treffen lernte ich Georgi P. kennen, damals 78 Jahre alt. Im Grunde hatte er nichts - eine Handvoll Bücher, die sein ganzer Stolz waren, ja, aber davon abgesehen: kein Geld, keine Gesundheit, keine Familie, kaum Freunde, eine winzige Wohnung. Wie schaffte dieser hochgebildete und wortgewandte Mensch es, so fröhlich, dankbar und bescheiden zu sein? Mir erst nach hartnäckigem Nachfragen von all den schlimmen Schicksalsschlägen in seinem Leben zu erzählen, ohne jeden Groll? Obwohl der Anlass des Termins kein schöner war, zählt die Begegnung mit Georgi P. zu den beeindruckendsten, die ich je hatte. Umso mehr freute es mich, dass sich ein Kulturverein bei mir meldete, um ihm Freikarten für vier Klassikkonzerte zu schenken - Konzertbesuche vermisste er schrecklich. Später bedankte er sich mit einem handgeschriebenen Brief bei dem Adventskalender-Verein und mir.

Es gab übrigens Kaffee bei Georgi P. Er trank ihn ohne Milch und ohne Zucker, genau wie ich. "Sonst schmeckt man den Kaffee ja gar nicht", sagte er. Ich stimmte ihm zu und wir lachten beide. Johanna Feckl

Dem lieben Gott eine verpasst

Carolin Fries. (Foto: Arlet Ulfers)

David wollte nicht, dass ich ihn sehe. Der Achtjährige hatte seine Eltern gebeten, die Tür zu seinem Zimmer während des Gesprächs mit seinen Eltern und Hospizbetreuern geschlossen zu halten. Zu sehr hatten die Medikamente den jungen Körper entstellt, der einmal so sportlich gewesen war - und nun auf den Rollstuhl angewiesen war. Also blieb die Tür zu, gelegentlich sahen die Eltern nach ihrem Sohn. Sie erzählten, wie fröhlich und aktiv der Junge gewesen war, bevor Ärzte den Tumor in seinem Kopf entdeckten. Wie er zuerst seine Gestik und Mimik verlor und schließlich seine Sprache. "Wenn ich tot bin, werde ich dem lieben Gott eine verpassen", hatte er seiner Mutter anvertraut.

Alle wussten, dass ihnen nur noch wenig Zeit bleiben würde - weshalb das bevorstehende Weihnachtsfest besonders schön werden sollte. Als ich mich im Flur verabschiedete, bedeutete mir der Vater, David wolle mich nun doch kurz sehen. Er lag in seinem Bett und lächelte und ich lächelte zurück. Wenige Wochen später erreichte mich die Nachricht von Davids Tod. Er hatte es nicht mehr bis Weihnachten geschafft. Es war so traurig. Was mich ein wenig tröstete, war der Gedanke, dass es jetzt irgendwo im Himmel gewaltig krachen würde. Carolin Fries

Von großer Bescheidenheit

Florian Haamann. (Foto: Johannes Simon)

Erst wenige Wochen ist es her, dass Claudia S. in mein Büro gekommen ist, um mir ihre Geschichte anzuvertrauen. Es war Ende November vergangenen Jahres und in diesem Moment war mir noch nicht klar, dass ich gleich von einem Schicksal hören werde, das mich weit stärker berühren wird als die vielen anderen, über die ich in mehr als zehn Jahren für das SZ-Hilfswerk geschrieben habe. Weil es eine Geschichte ist, in der sich sowohl die Menschen um die 55-Jährige herum als auch die Bürokratie von ihrer kältesten Seite zeigen. Erst erleidet sie einen Herzinfarkt, danach kommt es zu "unüberbrückbaren Problemen" mit ihrem Mann. Genauer möchte sie es nicht in der Zeitung lesen, aber hinter diesen zwei Wörtern allein steckt eine große Tragödie.

Das Paar trennt sich - und Claudia S. bricht unter der emotionalen Last zusammen. Schizoaffektive Störung lautet die Diagnose in der Psychiatrie, ihr komplettes Umfeld wendet sich von ihr ab. Die Erkrankung macht es der zuvor beruflichen erfolgreichen Frau unmöglich, weiterzuarbeiten. Weil die Kinder beim Vater leben, ist S. unterhaltspflichtig - obwohl er einen sehr guten Job hat. Bis auf das Existenzminimum muss sie ihre Erwerbsminderungsrente an ihn überweisen.

Doch es ist nicht nur die Tragik dieses Schicksals, die mich so berührt hat. Sondern auch, dass S. das alles ohne Wut oder andere negative Gefühl erzählt. Und dass sie, wie so viele Menschen, die uns ihre Lebensgeschichte anvertrauen, wahnsinnig bescheiden war. Winterkleidung wünsche sie sich - und ein Bettlaken. Denn aktuell besitze sie nur eines und das schimmelt. Es sind Momente wie diese, in denen man sich bewusst wird, wie privilegiert man selbst ist. Und dass es oft nur einen unglücklichen Zufall braucht, diese Privilegien zu verlieren. Florian Haamann

Durch die schwere Zeit getragen

Claudia Koestler. (Foto: Privat)

Manchmal überschlagen sich die Ereignisse, und manchmal nehmen sie dabei eine schreckliche, weil endgültige Wendung: Thomas W. (Name von der Redaktion geändert) ist mitten in der Nacht gestorben. Mit gerade einmal 52 Jahren. Plötzlich, unerwartet hat sein Herz aufgehört zu schlagen, und das nur zwei Tage, nachdem er mir von seinen Lebensumständen berichtet und auf Spenden von Lesern der Süddeutschen Zeitung gehofft hatte. Thomas W. saß in einer Notunterkunft und erzählte eine Biografie, die so typisch wie grausam ist, wenn alles schiefläuft. "Der Wohnungsmarkt hier in der Region ist eine Katastrophe", schilderte er. In seiner Verzweiflung kaufte er einen Wohnwagen.

Doch aus der Zwischenlösung wurde eine Zwangsbleibe, Thomas W. wurde zum Dauercamper. Auch seine Lebensgefährtin, Olga D. (Name geändert) zog mit ein. "Aber bei der Arbeitssuche hilft es nicht, wenn man als Adresse einen Campingplatz angibt", musste er erfahren. Dann erreichte das Paar ein Räumungsbescheid, weil der Campingplatz keine Dauercamper mehr erlaubte. Um die Obdachlosigkeit abzuwenden, kamen sie in einer Notunterkunft unter: ein Zimmer, gerade einmal 20 Quadratmeter. Einen Kühlschrank zu haben, davon träumten beide, und von Winterkleidung und Winterschuhen.

Dass es Zeitungsleser gebe, die helfen könnten, rührte die beiden zu Tränen. "Das wäre echt ein Licht am Horizont", sagte er bei der Verabschiedung. Wie sehr seine Augen vor leiser Hoffnung funkelten, bleibt in Erinnerung. Die Spende wurde, nachdem sein Tod bekannt wurde, nicht ad acta gelegt. Sie wurde auf Olga D. umgeschrieben. Die Hilfe, beschrieb sie später, war das, was sie durch diese schwere Zeit getragen hat. Zumindest diese Hoffnung hat sich erfüllt.

Tanzen gegen die Angst

Regina Bluhme. (Foto: Marco Einfeldt)

Acht Jahre begleite ich nun den SZ-Adventskalender. Jedes Jahr macht es mich wieder betroffen, wie groß die Not von Familien, von alleinerziehenden Müttern und Vätern, von älteren, gebrechlichen oder seelisch kranken Menschen doch sein kann im Landkreis Erding, im sogenannten Speckgürtel von München. Im Laufe der Jahre bin ich vielen Schicksalen begegnet. Im November 2022 folgte ich einer Einladung ins Prisma. Das Caritas-Tageszentrum für psychische Gesundheit in Erding ist eine Anlaufstelle für Menschen, die unter seelischen Problemen oder Erkrankungen leiden. Hier können Menschen wieder soziale Kontakte knüpfen, eine Tagesstruktur finden, Selbstbewusstsein aufbauen. Sie können gemeinsam Mittag essen, Feiern, es gibt Angebote für Malen, für Yoga, Bingo, Tanzen oder den Café-Treff.

Alfons Kühnstetter, damals stellvertretender Leiter, hatte mir zwei Gesprächspartner vermittelt. Sie wollten anonym bleiben. Wir nannten sie im Artikel Frau A. und Herr B. Ehrlich gesagt, war mir zu Beginn ein ganz klein wenig mulmig zumute. Wie spricht man jemand an, der seit vielen Jahren unter schweren Depressionen leidet? Werden die beiden überhaupt etwas von sich preisgeben? Und dann hat Frau A. ganz offen erzählt, wie sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung viele Jahre ihre Wohnung nicht verlassen konnte. Wie ihr bei einem Klinikaufenthalt ein Flyer von Prisma in die Hände gefallen ist. Wie sie lange gezögert hat und wie sie es dann vor vier Jahren doch geschafft hat, aus ihrer Einsamkeit auszubrechen und in der Einrichtung vorbeizuschauen. Und wie gut es ihr hier gefällt. So gut, dass sie seither fast täglich herkommt.

Herr B. hat nicht so viel gesagt, mahnte aber nach einiger Zeit zum Aufbruch. Im Prisma war Zeit für freies Tanzen. "Ich bin der DJ", erklärte Herr B., und Frau A. sagte, sie freue sich schon auf die Musik. Ich wünsche beiden, dass sie immer noch gerne zum Tanzen ins Prisma kommen. Regina Bluhme

Ein Xylofon für David

Gudrun Regelein. (Foto: Marco Einfeldt)

Als ich David kennenlernte - das war kurz vor Weihnachten 2015 -, war er vier Jahre alt. Er war ein aufgeweckter, sehr neugieriger Junge. David war aber kein Kind wie jedes andere. Er wird niemals ein normales Leben führen können, er ist schwerbehindert. David kam als Frühchen zur Welt, er wog gerade einmal 1000 Gramm bei seiner Geburt. Die Ärzte sagten seinen Eltern schon bald, dass mit ihm etwas nicht stimme. David hat einen zu kleinen Kopf, eine spastische Körperbehinderung und er leidet unter Epilepsie.

"Es ist ziemlich hart", sagte mir seine Mutter, eine zierliche Frau. Sie sah müde aus. Arztbesuche, Therapien und Behandlungen bestimmten das Leben der Familie. Alles drehte sich um David, die Eltern - vor allem die Mutter - hatten kein eigenes Leben mehr, zu sehr brauchte David sie. Davids Mutter beklagte sich nicht, aber ihr war sehr deutlich anzumerken, wie erschöpft sie war. Ihr großer Wunsch sei, dass David aus einem Glas trinken lerne und sie ihn nicht mehr wickeln müsse, sagte sie. Wie es weitergehen werde, wisse sie nicht. "Ich mache mir große Sorgen um David und seine Zukunft."

Die Familie lebte zu dritt in einer viel zu kleinen Wohnung, Privatsphäre gab es dort keine. Die finanzielle Situation war sehr angespannt. Zwar wurden die Therapien für den Jungen bezahlt, aber bis die Krankenkasse den speziellen Buggy, die Schienen und die Spezialschuhe genehmigte, mit denen der Vierjährige endlich das Laufen lernen konnte, hat es lange gedauert. Viel konnte sich die Familie nicht leisten. David hatte kaum Spielsachen. Auch ein Instrument konnten seine Eltern ihm, der auf Musik schon immer besonders reagiert hatte, nicht schenken.

Kurz nach Weihnachten telefonierte ich dann noch einmal mit der Mutter. Davids großer Wunsch konnte endlich erfüllt werden: Er bekam dank Spenden der SZ-Leserinnen und -Leser ein Xylofon. "David hat sich riesig gefreut", erzählte seine Mutter. Ihre Stimme klang fröhlich. Gudrun Regelein

Gegen die Ungerechtigkeit

Alexandra Leuthner. (Foto: privat)

Es war vor fast 30 Jahren, als ich eine meiner ersten Geschichten für den SZ-Adventskalender, heute SZ Gute Werke, geschrieben habe. Es ging um eine alleinerziehende Mutter von sieben Kindern, um deren zwei Väter, die sich weder um ihre Kinder noch um ihre Ex-Partnerin kümmerten, um Schläge und um Gewalt. Als ich die Geschichte jetzt erneut gelesen habe, empfand ich das gleiche Entsetzen, mit dem ich damals vom Gesprächstermin nach Hause gegangen war: Das Entsetzen über jene Ungerechtigkeit, die manche Menschen in so unverhältnismäßiger Weise heimsucht, dass es schmerzt, wenn man davon erfährt.

Dieses Entsetzen ist es, das mich neben dem Wunsch, wenigstens ein bisschen zu helfen, seither antreibt, immer wieder für das Spendenhilfswerk zu schreiben. Ich hoffe auch, mit diesen Geschichten Verständnis dafür zu wecken, dass es genug Betroffene gibt, die sich nicht mal eben in Hartz IV oder ins Bürgergeld fallen lassen, weil es so gemütlich ist. Sondern die deshalb darauf angewiesen sind, weil sie ständig am ganzen Körper Schmerzen haben, weil ihnen die Luft fehlt, vom Sofa aufzustehen, nur um einem Besucher die Tür zu öffnen, weil sie zu zittern beginnen, wenn man sie bittet, von ihrem Leben zu erzählen, oder weil sie weinen müssen, wenn man ihnen einfach nur zuhört.

Einer von ihnen ist Tobias P. Sich selbst hat er als kaputt beschrieben. Er war als Kind missbraucht worden, doch das war nichts, das er - obwohl ausgesprochen beredt und höchst intelligent - einfach so erzählen konnte. Traumatisiert, wie er war, hatte er eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung entwickelt, sein Leben lang kaum arbeiten können, inzwischen aber psychologische Hilfe gefunden und, mit Mitte 50, begonnen zu malen, etwas, das ihm Hoffnung gab. Ein Satz, den er sagte, ist mir besonders in Erinnerung geblieben: "Die Schönheit der Welt zu erkennen, das musste ich erst lernen." Alexandra Leuthner

Ein ganzes Leben in einem kleinen Zimmer

Anna Schwarz. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Von außen sah die Notunterkunft der Gemeinde wie ein gewöhnliches Einfamilienhaus aus, das etwas in die Jahre gekommen ist. Als Simon T. ( Name geändert) mir die Türe öffnete, sah ich einen sportlichen Mann, der mit kratziger Stimme sprach. Wie der 42-Jährige wohnt und was er in den letzten Jahren durchgemacht hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Er zeigte mir sein zehn Quadratmeter großes Zimmer, in das sein ganzes Leben passte. Auf dem Regal standen Kaffeemaschine, Wasserkocher, Mikrowelle und unter dem Spiegel hing ein Netz mit Kartoffeln.

Wir saßen an seinem kleinen Schreibtisch und Simon T. erzählte mir, wie er erfuhr, dass er Lungenkrebs hat, dass seine Eltern an Krebs gestorben sind, dass er eine Angststörung hat und, dass er nicht mehr arbeiten könne, weil die Nebenwirkungen der Strahlentherapie so heftig sind. Mir blieb oft die Stimme weg, ich hörte nur zu und dachte: "Warum muss er das alles durchmachen?" Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass es ihm guttut, das Ganze einmal zu erzählen.

Auf dem Rückweg überlegte ich, wie es sich anfühlt, wenn ein Leben unverschuldet komplett aus den Fugen gerät. Ein paar Wochen später erfahre ich: Dank der Spenden der SZ-Leserinnen und -Leser kann er sich ein Fahrrad kaufen - und das freut mich, weil es ein kleiner Schritt für den Mann ist, um wieder aktiver und selbständiger zu werden.

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