Kommentar zum Auftakt 1948:"Nie war die Not so himmelschreiend wie eben heute"

Lesezeit: 3 Min.

Da der Heizungskeller im Winter der einzig warme Raum in dem zerbombten Verlagsgebäude war, arbeitete auch die SZ-Redaktion in den Anfangsjahren zeitweise im Keller. Werner Friedmann sitzt im Bild als Zweiter von links mit dem Blick zur Kamera neben Chefredakteur und Verleger Edmund Goldschagg. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg startete die SZ-Hilfsaktion - mit einem eindringlichen Appell zu Weihnachten. Der Originaltext von damals.

Von Werner Friedmann

Am 24. Dezember 1948 berichtet die Süddeutsche Zeitung im Lokalteil über die "Christkindlfahrt zu den Vergessenen". Die Aktion bildete den Auftakt des Hilfswerks und wurde flankiert von diesem Kommentar:

"Wenn eine Welt in Trümmer geht, hat man — so glauben die Theoretiker — die Chance, eine bessere Welt aufzubauen. Die Praxis lehrt jedoch, dass man leider immer wieder die alten Konstruktionsfehler in den Neubau übernimmt. "Bessere" Welt heißt in erster Linie "gerechtere" Welt. Gerechter aber ist unsere Welt, selbst wenn man sie mit weihnachtlich milden Augen betrachtet, nicht geworden. Es scheint mehr denn je unmöglich, die Gerechtigkeit zum System zu erheben, solange wir uns nicht einem "Landeslastenverteiler" unterwerfen, der nicht nur (wie bisher) die knappe Elektrizität verteilt, sondern auch alle sonstigen Güter und Lasten des Daseins, und zwar dergestalt, dass diese den Schultern, die da tragen, gleichmäßig aufgebürdet werden.

Ein solcher "Landeslastenverteiler" bleibt freilich eine Märchengestalt. Er ist Weihnachten 1948 unwirklicher als je zuvor. Wohl gab es in der Zeit des allgemeinen Mangels der Nachkriegs-Weihnachtsfeste noch eine Schicksalsgemeinschaft aller Hungrigen und Entbehrenden. Der Ministerialrat zählte seine Holzscheite ebenso wie die Waschfrau, und der Generaldirektor hütete seine Brotmarken so ängstlich wie der Trambahnschaffner. Am Weihnachtstisch 1948 aber sieht es zum ersten Mal anders aus.

MeinungSoziale Stiftungen
:Unabhängig sein von gutem Willen Einzelner

Kommentar von Ulrike Heidenreich

Die Schicksalsgemeinschaft ist auseinandergefallen durch die Erbarmungslosigkeit eines Schicksals, das menschliches Glück wieder endgültig vom Umfang des Geldbeutels abhängig macht. Man muss nicht mehr ein Schieber sein, um eine warme Stube oder eine Weihnachtsgans zu haben, die Sekt- und Schnapsflaschen auf dem Weihnachtstisch sind redlich erworben, die Wolljacken und Seidenstrümpfe, die Ledertaschen und Skistiefel mussten nicht hintenherum oder auf dem Tauschwege besorgt werden. Sie schmückten höchst offiziell die Schaufenster der Kaufläden. Nur musste man das Geld zum Erwerb dieser Herrlichkeiten besitzen. Und hier liegt die neue alte Ungerechtigkeit, die in diesen frommen Tagen krasser in Erscheinung tritt als je zuvor.

Während die einen (und diesmal nicht nur gewisse Schieber) in der Lage sind, erstmalig ein wahrhaft friedensmäßiges Weihnachtsfest mit einem (wie sie selbstzufrieden annehmen) guten Gewissen zu feiern, gibt es Tausende und aber Tausende, die sich nicht einmal ein bescheidenes Bäumchen oder ein paar armselige Weihnachtslichtlein leisten können. "Das war immer schon so", werden die Besitzenden einwenden. Ja, aber nie zuvor standen jene, die da Persianermäntel, Perserteppiche und Krokodiltaschen kaufen können, mit so abgewandten Gesichtern einer grenzenlosen Not gegenüber, wie in dieser Zeit, die vor einigen Monaten den Versuch unternahm, jedem Bürger mit abgezählten 60 Mark den Start in ein neues besseres Leben zu ermöglichen.

Nie war die Not von Heimat- und Besitzlosen, Versehrten, Kranken und Altersschwachen, einsamen Witwen und unbehüteten Kindern so himmelschreiend wie eben heute. Nie war die Unkenntnis der vom Schicksal Begünstigten über das Elend der Enterbten größer als in diesen Tagen, weil man es einfach aus Gründen der Bequemlichkeit gar nicht wissen will, was sich in den Quartieren der Armut abspielt.

Wenn wir dereinst nach unseren guten Taten gefragt werden sollten, so werden wir bemüht sein müssen, aus möglichst vielen kleinen Steinchen ein Mosaik zusammenzusetzen. Und dann werden wir es vielleicht bereuen, dass wir so manche Gelegenheit, diese kleinen Steinchen zu sammeln, ungenützt vorübergehen ließen. Dieses Versäumnis aber wird, so meinen wir, um so schwerer wiegen, als es in einer Zeit begangen wurde, die "besser" sein sollte als die vorangegangene.

Werner Friedmann auf einem Porträt, das lange im Konferenzzimmer des Süddeutschen Verlages hing. (Foto: Karl-Heinz Egginger/SZ Photo)

Hand aufs Herz: Wer von jenen wohlgekleideten Kunden, die in Münchens 130 luxuriösen Ledergeschäften oder in den wie Pilze auftauchenden Modellwerkstätten, ausgestattet mit verlockenden 500-Mark-Kleidern, ihren Weihnachtstisch bestellten, die Summen, welche ein aufmerksames Finanzamt bestürzen würden, für Pelze und Schmuck ausgeben konnten, hat gleichzeitig das Bedürfnis verspürt, den Gabentisch eines wahrhaft Armen zu bedenken?

Wer von jenen, deren Kassen sich füllten, weil sie in der Zeit gemeinsamer Not knappe Waren zurückzuhalten verstanden, hat sich beim Wohlfahrtsreferenten unserer Stadt oder bei den Caritas-Verbänden die Adresse eines im Elend Befindlichen zu verschaffen bemüht, um ihm am heutigen Abend mit einem menschenfreundlichen Paket zu überraschen?

Wer von jenen, die sich der verlockenden Speisen- und Getränkekarten freundlicher Münchner Wirte täglich bedienen und, ohne mit der Wimper zu zucken, 200-Mark-Zechen machen, hat das ehrliche Verlangen nach einer Sammelbüchse gehabt, um darin heimlich einen 20-Mark-Schein zugunsten einer Weihnachtsfreude für die Zaungäste zu versenken?

Oh - es waren so wenige, so erschreckend wenige! Und man fände die Armen, die da darben, so leicht wie nie zuvor. Nie gab es eine Gelegenheit, so mühelos Steinchen für das Mosaik der guten Taten, zu sammeln. Unsere Weihnachtsreportage auf dieser Seite ist nur ein bescheidener Versuch, der den Weg weisen will für jene, die ihn nachahmenswert finden. Es ist nie zu spät, solange der Schlag unserer Herzen nicht unhörbar wird unter dem Panzer der Selbstsucht."

Werner Friedmann (1909 - 1969) arbeitete ab 1945 für die SZ, zuerst als Leiter des Bayern-Teils. 1946 wurde er zusätzlich einer der Linzenznehmer und Teilhaber der Zeitung. Von 1951 bis 1960 wirkte er als Chefredakteur. Die Familie Friedmann ist immer noch mit 18,75 Prozent am Süddeutschen Verlag beteiligt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSoziale Ungleichheit
:Armes München, reiches München

Die Kluft zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen ist in München besonders groß. Was sich an dicken Autos, teuren Restaurants und dem Wohnungsmarkt über die Ungleichheit in der Stadt ablesen lässt. 

Von David Wünschel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: