SZ-Adventskalender:"Sie wollen alles schaffen"

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Die Hausaufgabenbetreuung in der Bayernkaserne eröffnet Flüchtlingskindern die Chance, sich in München einzuleben

Von Franziska Gerlach

Sadir weiß genau, wo er in diesem großen Zimmer mit den kleinen Tischen seine Stempelkarte findet. Er zieht die Schublade eines Hängeregisterschrankes auf, schnappt sich eine Mappe, nimmt einen Papierbogen daraus hervor - und tut, was er schon 165 Mal zuvor getan hat: Er drückt einen Stempel in ein freies Feld. "Mit heute sind es 166", sagt der Drittklässler, der aus dem Irak kommt. Er klingt stolz. Noch 34 Mal muss er in die Hausaufgabenbetreuung gehen, dann darf er sich erneut einen Ausflug wünschen, der ihn für einige Stunden aus der Bayernkaserne und der Wohnungslosigkeit hinausführen wird: Ins Kino zum Beispiel, wie beim letzten Mal, als er die einhundert Stempel voll hatte. Vielleicht aber auch in den Trampolinpark.

Wahrscheinlich würden Sadir und die anderen Zweit- und Drittklässler, die an diesem Dienstagnachmittag über ihren Hausaufgaben brüten, aber auch ohne den Anreiz eines Ausflugs regelmäßig zu Melanie Emmerling und ihrer Kollegin Barbara Androusis in die hellen, großen Räume der Bayernkaserne gehen, wo die Stadt vorübergehend wohnungslose Familien unterbringt. "Die Kinder kommen sehr gerne zu uns", sagt Emmerling. Wie gerne, das zeigt sich eindrücklich um 16 Uhr, als die Erzieherin die Tür öffnet und kleine, aber auch größere Kinder an ihr vorbei in die bunte Oase der Bildung drängen, die hier in den vergangenen sechs Jahren entstanden ist.

Wenn Zweit- und Drittklässler ihre Matheaufgaben erledigen, müssen sie sorgfältig arbeiten. (Foto: Catherina Hess)

Nach drei Stunden, in denen die Kinder, in Klassenstufen eingeteilt, ihre Hausaufgaben machen konnten, ist nun die Zeit zum freien Spielen und Lernen gekommen: Eine Gruppe Buben läuft schnurstracks auf einen Tischkicker zu, ein Mädchen versucht sich an einer Kasse, wie man sie aus dem Supermarkt kennt, nur mit viel größeren Tasten. Emmerling beobachtet jedoch häufig, dass die Kinder auch in dieser offenen Stunde von 16 Uhr an noch ihre Hausaufgaben machen möchten. "Sie wollen alles schaffen. Genau wie die anderen Kinder auch", sagt die Erzieherin, die seit 2014 in der Bayernkaserne tätig ist.

Doch so zu sein wie die anderen Münchner Kinder - was heißt das eigentlich? Bedeutet das, fehlerfrei Deutsch zu sprechen? Gute Schulnoten und einen schicken Schulranzen zu haben, oder jeden Tag ein anders belegtes Pausenbrot in der Vesperdose vorzufinden? Oder bedeutet es, ganz bequem auf 85 Quadratmetern mit Fußbodenheizung zu leben? Und nicht in den städtischen Wohneinheiten der Bayernkaserne, wo es für eine fünfköpfige Familie zweifelsohne eng werden kann, vor allem, wenn man sich Bad und Küche mit anderen Familien teilt.

Sadir macht es vor und holt sich regelmäßig seine Fleiß-Stempel ab. (Foto: Catherina Hess)

Rund 1700 Kinder und Jugendliche sind in München derzeit wohnungslos. Viele von ihnen sind in einer der zehn Familienpensionen untergebracht, die die Stadt über ganz München verteilt eingerichtet hat, unter anderem in der Bayernkaserne. Aber auch Alleinstehende leben dort. "Wohnungslos kann jeder werden", sagt Christine Faltenbacher von der Abteilung Wohnungslosenhilfe und Prävention. Und die Gründe dafür seien dabei so vielfältig wie die Biografien der Menschen, die auf die Hilfe der Stadt angewiesen sind. "Das geht quer durch alle Schichten, durch alle Nationen", erläutert die Mitarbeiterin der Stadt.

Etwa 80 Prozent aller Wohnungslosen sind Migranten, aber natürlich sind auch Deutsche betroffen. In München mit seinen horrenden Mieten schlägt Wohnungslosigkeit noch schneller, noch härter zu als andernorts. Sie betrifft gescheiterte Unternehmer, die wegen eines Schufaeintrags keine Wohnung mehr finden. Suchtkranke, denen die Kraft fehlt, sich auf dem freien Markt zu behaupten. Aber auch ehemalige Flüchtlinge, die mit der Anerkennung ihre Gemeinschaftsunterkunft verlassen müssen - dann aber lange und oft erfolglos eine Wohnung suchen. Nicht alle, aber viele dieser Menschen haben "ein Päckchen" zu schultern, das sie mitunter auf ihre Kinder übertragen: Depressionen, Antriebslosigkeit oder Geldsorgen zum Beispiel; oftmals gepaart mit unzureichenden Kenntnissen der deutschen Sprache, was das Gefühl der Hilflosigkeit und Isolation noch verstärken kann.

Erzieherin Melanie Emmerling steht ihm mit Rat und Tat zur Seite. (Foto: Catherina Hess)

Und so ist es nur sinnvoll, nicht nur die Kinder beim Lernen zu unterstützen, sondern auch die Eltern in die Bildungsarbeit einzubinden. Etwa dann, wenn es um die Verbesserung der Deutschkenntnisse geht. Gerade plant die Stadt den Sprachkurs "Unsere Familien lernen Deutsch!", der einen Unterricht "vor Ort" vorsieht - ein Angebot, das insbesondere Müttern mit kleinen Kindern den Zugang zur deutschen Sprache erleichtern soll. Aber auch ein Bildungssommerfest ist geplant, bei dem Kinder und Eltern in einem Lernparcours erleben können, wie viel Freude es macht, sein Wissen zu erweitern und vielleicht sogar eine neue Sprache zu lernen. "Die Sprache ist der Schlüssel zur Welt", sagt Barbara Androusis in den Räumen der Hausaufgabenbetreuung der Bayernkaserne. Und während die Erzieherin das sagt, lässt sie die Hand des Zweitklässlers, der ihr am Tisch gegenübersitzt, nicht eine Sekunde aus den Augen. "Fische haben keine Federn", schreibt der Junge langsam. Und: "Frank hat freche Freunde."

Viele der Kinder sprechen bereits flüssig Deutsch, doch es kommen immer wieder welche dazu, bei denen das noch nicht klappt. Dann sprechen die Frauen besonders langsam und deutlich, führen diese Kinder mit Gesten und Einfühlungsvermögen an die neue Sprache heran. Überhaupt sind die Erzieherinnen in der Bayernkaserne, die dieses sozialpädagogische Betreuungsangebot der Stadt schultern, nicht nur für die Hausaufgaben da: Der Freitag dient der Freizeitgestaltung, alle sechs Wochen steht ein Ausflug an; ins Museum zum Beispiel oder in den Zoo. Und auch den wohnungslosen Eltern helfen die Frauen bei so ziemlich allem, was die Lebenswelt ihrer Kinder betrifft.

Dazu gehört die in München bekanntermaßen aufwendige Suche nach einem Kita- oder Kindergartenplatz, sie erläutern den Inhalt von Elternbriefen und beraten bei Schulproblemen. Hin und wieder müssen sie den Eltern allerdings auch verdeutlichen: "Wenn die Schule um acht Uhr anfängt, dann fängt sie um acht Uhr an", sagt Emmerling. So etwas sei freilich kein böser Wille, sondern eher kulturellen Unterschieden im Tagesablauf geschuldet, die sich mit dem deutschen Schulsystem schwer vereinbaren ließen. Mit anderen Worten: Wenn erst um 23 Uhr zu Abend gegessen wird, kommen die Kinder auch später ins Bett - und am nächsten Morgen dementsprechend schwer aus den Federn.

Sadir jedoch braucht keiner zu erklären, was gutes Zeitmanagement bedeutet. Kaum eine Stunde braucht er, um die Hausaufgaben fehlerfrei zu erledigen. Er klappt sein Matheheft zu, packt die Stifte zusammen, schiebt alles in seinen Rucksack. "Tschüss, Melanie!", sagt Sadir und hebt die Hand zum Abschied. "Bis morgen!"

© SZ vom 13.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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