SZ-Adventskalender:Gefangen von sieben Stufen

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Einmal in der Woche genießt Klaus Riekenberg die Nähe zu anderen Menschen bei "Carpe Diem". Das Problem: Er braucht die Hilfe eines speziellen Fahrdienstes, um das Treppenhaus zu überwinden - und das kostet

Von Renate Winkler-Schlang, Untergiesing

Klaus Riekenberg strahlt. Seine zierliche kleine Tischnachbarin hat ihm den Arm getätschelt und ihn, wie an jedem Dienstag, freudig begrüßt. Als sie erzählt, wie diese Treffen bei "Carpe Diem" ablaufen, lächelt er anerkennend: "Sie ist fit", flüstert er. Dabei hat er vorher noch inbrünstig geschimpft - über frühere Pflegedienste, Betreuer, seine Kunden von früher, über die ganze Welt. Die Gruppe aber tut dem 76-jährigen Mann sichtlich gut, er wirkt richtig entspannt, genießt Kaffee und Kuchen, das Geburtstagslied für die alte Dame ihm gegenüber.

Ein glanzvolles Leben muss er geführt haben, der Mann mit den wallenden weißen Haaren, glaubt man dem, woran er sich erinnert. Klaus Riekenberg war Innenarchitekt, einer, den die Leute weiter empfahlen, namhafte Politiker zählten offenbar zu seinen Auftraggebern. Dann, vor sechs Jahren, fiel er um: diabetesbedingter Schlaganfall. Seitdem braucht er Pflege und einen Rollstuhl. Riekenberg wohnt in Hochparterre, nur sieben Stufen von der Freiheit entfernt. Doch jahrelang waren diese sieben Stufen für den großen 80-Kilo-Mann, der keine Kinder oder Enkel hat und dessen Zwillingsbruder schon gestorben ist, unüberwindlich. Er war meist gefangen in seiner kleinen Wohnung. Fünf Jahre lang. Wollte er frische Luft, musste er die Balkontür aufmachen.

Alleine geht nichts: Klaus Riekenberg (links) braucht professionelle Hilfe, um die Wohnung zu verlassen. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Ob er vorher schon psychische Probleme hatte, weiß Ulrike Reder nicht. Nun jedenfalls habe er sie, zudem könne er sich immer weniger merken, das sei wohl eine beginnende Demenz. Reder ist Geschäftsführerin des Vereins Carpe Diem und sagt, Klaus Riekenbergs Situation sei leider typisch für Selbständige, die nicht in die Pflegekasse einbezahlt haben und damit zwar die medizinische und pflegerische Hilfe, aber keine zusätzlichen Betreuungsleistungen erhalten. Dafür, dass Riekenberg nun an jedem Dienstag für vier Stunden seinen vier Wänden entfliehen kann und in die betreute Gruppe am Candidplatz 9 geholt wird, braucht es Spendengeld. Denn: Seine Rente reicht nur für die Miete, das Essen, ein paar Blumentöpfe auf dem Balkon.

In seinem Fall ist auch noch dieses Abholen ein besonderer Akt. Für eine Rampe fehlt der Platz, der ehrenamtliche Fahrdienst kann nicht Mann und Rollstuhl die Treppe hinuntertragen. Die Kasse hat ihm ein 4000 Euro teures "Scalamobil" beschafft - ein hydraulisches Gerät mit kleinen, für die schmalen Stufen tauglichen Rädchen. Doch das "kriminelle Ding", wie Riekenberg es grollend nennt, kann man nur mit vorheriger Einweisung bedienen, denn die Rolli-Räder müssen dafür entfernt und danach wieder sicher montiert werden. Schlimmer noch: In dem Moment, in dem es die erste Stufe abwärts geht, hängt der nun räderlose Rolli samt dem Behinderten steil in der Luft, das Mini-Rädchen an der Kante. Es sieht gefährlich aus, auch wenn es das letztlich wohl nicht ist. Diese Verantwortung aber will kein Ehrenamtlicher tragen, sodass nun stets Steffen Marquordt, der Bereichsleiter für die Betreuungsgruppen, diese Extra-Tour machen muss. Langfristig wird ein spezieller Fahrdienst gebraucht. Und das kostet.

Aber die Gruppe tut Klaus Riekenberg gut. Die Pflegekräfte haben Ulrike Reder berichtet, dass Riekenberg viel ruhiger und zugänglicher geworden sei, seit er regelmäßig dienstags kommt. "Carpe Diem", sagt Riekenberg und ist voll des Lobes über die Mitarbeiter und Helfer dort, wo der Name Programm ist: Carpe Diem bedeutet, frei aus dem Lateinischen übersetzt, "Nutze den Tag".

Gegründet wurde die gemeinnützige und konfessionell neutrale Einrichtung 1999, als Münchens erste WG für Demenzkranke in der Messestadt einen auf sie zugeschnittenen ambulanten Pflegedienst brauchte. Inzwischen hat der Verein rund 80 Haupt- und mehr als 100 Ehrenamtliche. Auf- und ausgebaut wurden zahlreiche andere Hilfsangebote, darunter eine Weihnachtspäckchenaktion oder die Gruppen für demente Personen und psychisch Kranke. Sie entlasten pflegende Angehörige und schenken den Teilnehmern wie Klaus Riekenberg "kleine Momente des Glücks" - wie der Verein sein oberstes Ziel formuliert.

Gemütlich ist es, Herbstastern stehen in einer Vase, der von einem ehrenamtlichen "Kuchenengel" gebackene Quarkkirschkuchen ist fast verputzt. Gerlinde Baur leitet die Gruppe, die Ehrenamtler Karl-Heinz Laier und Barbara Kohlrusch kümmern sich mit um die Teilnehmer. Ein weißhaariger Mann beschließt das Lied mit einem Jodler. Riekenberg strahlt immer noch. Die Gruppe macht dann einen sonnigen Spaziergang, als Gedächtnistraining lustiges Liederraten. Sie schnippeln Gemüse für ein Abendessen. Danach bleiben gute Erinnerungen - die an den sechs anderen und einsamen Tagen nachwirken.

© SZ vom 08.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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