SZ-Adventskalender:Das Mädchen mit den vielen Namen

Lesezeit: 2 min

Pema kam erst vor kurzem aus Tibet nach München. Sich hier zurecht zu finden, ist für sie schwer - sie ist Autistin

Von Monika Maier-Albang

Es ist kühl im Zimmer, aber Pema sitzt in Unterwäsche auf der Matratze. Sie nimmt eine hölzerne Eisenbahnschiene aus der Plastikwanne, dann noch eine, und noch eine. Immer drei müssen es sein, dann ist sie zufrieden. Die drei Holzstücke werden mit dem Finger abgeklopft, dann dürfen sie zurück in die Wanne. Und dann beginnt Pema erneut mit ihrem Spiel, zu dem sie sich mit Klicklauten eigene Klangfolgen ausgedacht hat. Ob sie hört, dass ihre Mutter sie eindringlich bittet, etwas überzuziehen? Vermutlich versteht sie, was Semkyi K. von ihr möchte. "Aber sie kann sehr stur sein", sagt die Mutter. Es klingt liebevoll, aber auch etwas angestrengt. Denn anziehen will Pema sich nicht, zumindest nicht jetzt.

Pema (alle Namen sind geändert) ist 15, sie ist einen halben Kopf größer als ihre Mutter und eigentlich sollte man meinen, dass die Mutter in der Sprache mit ihrer Tochter spricht, mit der beide aufgewachsen sind: Tibetisch. Doch Semkyi K. sagt zu dem Mädchen: "Bitte bitte Hose anziehen. Ist sehr kalt, Schatzi." Denn nur wenn sie Deutsch mit Pema spricht, dann folgt sie auch. Für Pema ist es wohl so etwas wie die Sprache der neuen Autoritäten.

Pema ist in Tibet aufgewachsen, bei den Großeltern, in dem Land, aus dem ihre Mutter geflohen ist. Im Februar dieses Jahres erst kam Pema nach München, gemeinsam mit ihrem zwölf Jahre alten Bruder. Die Mutter kannten beide bis dahin nur von Bildern. Und die Mutter hatte ihre Kinder zuletzt gesehen, als sie Kleinkinder waren. Schon damals habe sie gemerkt, dass mit Pema etwas nicht stimmt. "Sie hat nicht angefangen zu sprechen", sagt Frau K., "allerdings gibt es das häufiger bei uns". In Tibet sei es dann üblich, dem Kind einen neuen Vornamen zu geben. Pema hat einige Namen angesammelt, sprechen aber kann sie bis heute nicht. Von Autismus hatte Semkyi K. nie etwas gehört, bevor Pema nach Deutschland kam. "Unser Dorfarzt wusste nicht, was sie hat. Und zur Stadt war es zu weit."

Mittlerweile sind die Großeltern alt. Sie waren überfordert mit Pema. Semkyi K. ist glücklich, dass sie ihre Kinder nach langem Kampf und bürokratischen Hürden endlich bei sich hat - aber die ersten Monate waren für alle nicht einfach. Semkyi K. musste ihre Arbeit aufgeben, um bei Pema sein zu können. Die kann, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht, aggressiv sein. Und sie ist kräftig. Die Betten der Familie sind kaputt gegangen. Mittlerweile hat Pema in einer heilpädagogischen Tagesstätte einen Platz bekommen und ist nur noch jedes zweite Wochenende zu Hause. "Sie hat viel gelernt seither", sagt die Mutter, die gerade tibetische Teigtaschen gebacken hat - Pemas Lieblingsgericht. "Sie spielt jetzt ruhig. Und schreit nicht mehr so viel."

Neue Bettgestelle möchte Semkyi K. kaufen. Und Gonpo, ihr Sohn, hätte gern ein Bücherregal und einen Schreibtisch. Seine Hausaufgaben macht er momentan auf dem Boden. Und noch etwas wünscht sich die Mutter: einen Sprachkurs für sich. "Ich möchte verstehen, was die Lehrer am Elternabend sagen." Mit Pema redet sie nun wieder auf Deutsch. Und endlich lässt ihre Tochter es zu, dass die Mutter ihr einen Pulli überzieht.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: