Kunst will gestaltet werden. Egal ob sie im Museum, in einer Galerie oder an einer Straße zu sehen ist. Denn es geht um Aufmerksamkeit. Je öfter man etwas sieht, desto größer ist die Wirkung, das wissen nicht nur Marketingexperten. Das ist auch Andreas Bohnenstengel klar und deshalb macht er die ganze Stadt zu seiner Galerie. Bohnenstengel, 50, verwandelt Wände im öffentlichen Raum zu Projektionsflächen für seine künstlerischen Mitteilungen. Der Fotograf und Dozent, dessen Arbeiten schon in etlichen Museen und Galerien hingen, ist zum unermüdlichen Street-Art-Künstler geworden. Nicht nur, weil Galerien und Museen jetzt geschlossen sind.
Er sagt, er wolle positive Zeichen setzen in diesen schwierigen Zeiten. "Erinnerungsmarker" nennt er diese Bilder, die er aufgenommen hat, als man von Corona noch nichts ahnte. Etliche Fotografien sind für Zeitungsreportagen entstanden, oder im Rahmen eigener Recherchen als fotografierender "Ethnologe", wie sich Bohnenstengel selbst sieht. Da ist etwa das kleine Mädchen mit dem Pagenkopf, das von einer feenhaft gekleideten Frau etwas in die Hand bekommt. Die beiden sind sich nahe. Ein Moment, der in diesen Tagen fast unvorstellbar ist, eine Szene aus der Serie "Erwartung". Bohnenstengel hat sie bei einer Veranstaltung in der Sendlinger Straße 1999 beobachtet. Man findet sie zusammen mit drei anderen Motiven im Fußgängertunnel an der Brudermühlstraße: eine Frau, die aus dem Fenster schaut, ein Junge, der sich über eine Brüstung beugt und zwei Hände, deren Zeigefinger mit einem hauchdünnen Zwischenraum zueinander stehen; Michelangelos berühmtes Motiv kitschfrei neu interpretiert.
Vor allem diese Hände im DIN-A3-Format fallen auf, weil das Bild in der Gruppe singulär steht. Weil hier der Gestaltungswille des Fotografen deutlich wird und dessen Botschaft. "Ich glaube, Angst ist gerade ein großes Thema der Menschen", sagt Bohnenstengel. Er wolle dagegen halten und zeigen, was mal war. Zeigen, dass es ein soziales Miteinander gegeben habe, und dass es das sicher wieder geben werde. Wer in diesen Tagen mit offenen Augen durch München geht, wird sehr viele von Bohnenstengels Fotoplakaten entdecken. Man sollte ihm dankbar sein, für seine Mühen. Denn er bringt Abwechslung in die immer gleichen Spazierwege und Anregungen für Gedankengänge. Das ist das Schöne an Straßenkunst, wenn sie nicht beschädigend und böswillig ist: Sie kommt zu den Menschen und gibt ihnen etwas.
Angefangen hat der Münchner Fotograf vor einem Dreivierteljahr mit Bildern aus seiner Dokumentation über den früheren Rossmarkt am Schlachthof, die es seit 2017 auch als Bildband gibt. Noch immer hängen die Abzüge, wenn auch in Fetzen, in der Paul-Heyse-Unterführung. Nicht weit entfernt kleben Bilder der tanzenden Schäffler, von Besuchern des Kocherlballs und der Figur eines Echsenmenschen, die darauf wartet, zu einem Oktoberfest-Karussell verbaut zu werden.
Bohnenstengel weiß, dass er sich mit seiner Kunstaktion in einer gesetzlichen Grauzone bewegt. Aber anders als bei illegalen Graffiti-Künstlern oder Taggern, lassen sich seine Papierbilder restlos entfernen. Er konkurriert mit den Sprayern um die nicht allzu üppigen Flächen in München, die nicht pausenlos von Polizeistreifen kontrolliert werden. Mittlerweile hat er auch gelernt, welche Bilder in welchem Stadtteil akzeptiert sind. "Ich will nicht provozieren", sagt er. Rund um den Schlachthof und auch in Pasing beispielsweise werden die Bilder vom Pferdemarkt angenommen. Im Gärtnerplatzviertel bleiben seine Motive aus der Strafvollzugsanstalt in Ebrach, was rund um den Hauptbahnhof von manchen Betrachtern als Affront angesehen werden könne. Die Gesichter, in die Bohnenstengel 2002 während eines Spiels bei der Fußball-WM gesehen hat, brüskieren niemanden. Sie vermitteln ein Gemeinschaftsgefühl.