Steinhausen:Der blinde Fleck

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Wo heute der Turm des Süddeutschen Verlags aufragt, lag nach dem Krieg ein sogenanntes Landfahrerlager. (Foto: Veronica Laber)

Regisseurin Dorothea Schroeder plant theatrale Spaziergänge durch die "Zigeunerschlucht" in Steinhausen, wo es in den Fünfzigerjahren ein sogenanntes Landfahrerlager gab

Von Jutta Czeguhn, Steinhausen

Dorothea Schroeder kneift die Augen zusammen. Die Fassade des SZ-Hochhauses hat in der Mittagssonne einen Brennglas-Effekt. Die 41-jährige Regisseurin steht auf dem Vorplatz des Verlagsgebäudes, dreht sich 180 Grad um die eigene Achse, blickt nun nach Westen auf die Druckerei, dann nach Norden Richtung Autobahn, wo sich das Gelände sanft absenkt. "Zigeunerschlucht" hieß dieses Gebiet an der Zamdorfer Straße einmal bei den Einheimischen. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt befand sich auf dem etwa 6000 Quadratmeter großen Areal ein sogenanntes Landfahrerlager. Auch Roma und Sinti lebten dort in Wohnwagen oder Eisenbahnwaggons. Schroeder will ihre Geschichte erzählen. Sie plant theatrale Stadtspaziergänge, eine Art Performance im Gehen. Noch weiß sie nicht genug über die Zigeunerschlucht, deshalb sucht sie Zeitzeugen.

Schroeder, Absolventin der Bayerischen Theaterakademie, kam über einen weiten Umweg zu dem Projekt. Ein Umweg, auf dem ihr klar wurde, dass es um einen blinden Fleck von ziemlich enormem Ausmaß geht. Ignoranz, Vorurteile, klischeehaftes Denken, das alles hat sie auch bei sich selbst feststellen müssen. Vor zehn Jahren etwa, als sie für einen Filmdreh über Migration in ihre Heimatstadt Mettmann in Nordrhein-Westfalen zurückkehrte. Dort traf sie auf einen Sinto, einen Alteisenhändler, der sich als "Michael Schmidt" vorstellte. "Wie kann das sein, das er einen ganz normalen deutschen Namen hat?", fragte sich die Regisseurin.

Dann ein paar Jahre später, wieder ein Projekt zum Thema Migration, diesmal am Landestheater in Linz. Die Recherchen führen Dorothea Schroeder zum Verein "Ketani", der sich für die Belange der Sinti und Roma in Österreich einsetzt. Dort hat man sie erst einmal ausgelacht: "Migranten? Wir leben schon länger hier als die Österreicher." Die deutsche Theatermacherin wird trotzdem herzlich aufgenommen, erfährt bewegende Lebensgeschichten von Menschen, die in Konzentrationslagern verschwanden oder in Leni Riefenstahls NS-Propagandafilm "Tiefland" als Statisten eingesetzt waren.

Dorothea Schroeder hofft nun, dass sie für ihr Münchner Projekt ebenfalls Zeugen finden wird. Was ist aus jenen geworden, die damals auf dem Lagerplatz lebten? Und wie leben ihre Kinder und Enkel heute? Woran erinnern sich die Anwohner? Gibt es Fotomaterial? Was sagen die Archive, Polizeiakten, Protokolle der zuständigen kommunalen Gremien? Bis zum Start am 14. Juli gibt es noch viel zu recherchieren und zu beobachten, auch im persönlichen Umfeld. Schroeder lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in Augsburg. "Was, ihr lasst eure Kinder dort spielen?", hat sie sich neulich von einer Mutter in vorwurfsvollem Ton anhören müssen. Es ging um einen Spielplatz, der bei Roma- und Sinti-Kindern beliebt ist. "Ich überlege mir genau, wem ich erzähle, an was ich gerade arbeite", sagt sie.

An Historischem weißt Dorothea Schroeder über die Zigeunerschlucht bislang, dass in den Fünfzigerjahren etwa 300 Menschen auf dem Areal lebten, nur ein Fünftel davon sollen Sinti und Roma gewesen sein. Was die Einheimischen offensichtlich nicht davon abhielt, das Lager "Zigeunerschlucht" und ein Freibad an der Zamdorfer Straße "Zigeunerbad" zu taufen. Die Bewohner des Sammelplatzes, so heißt es, hätten als Schausteller, Artisten, Schirmflicker und Scherenschleifer ihr Leben bestritten. Mitte der Fünfzigerjahre habe die Stadt begonnen, Ausweichquartiere zu suchen, das Lager stand dem Ausbau der Autobahn im Weg. Die Standortdiskussionen, die in Bezirksausschuss-Protokollen erhalten sind, erinnern an die Anwohner-Reaktionen von heute, wenn es um Unterkünfte für Flüchtlinge geht.

Überhaupt erst aufmerksam auf die Zigeunerschlucht in Steinhausen wurde Schroeder durch einen Hinweis von Alexander Diepold. Der Geschäftsführer des Sozialprojekts "Madhouse", selbst Sinto, unterstützt viele Roma- und Sinti-Familien und ist breit vernetzt. Von ihm hat die Regisseurin schon etliche Kontakte erhalten. Ebenso von Alexander Adler, der ein Theaterstück mit Sinti- und Roma-Kindern auf die Bühne der Kammerspiele gebracht hat. Er wird bei Zigeunerschlucht-Spaziergängen als Schauspieler dabei sein.

"Eine gute Recherche ist für uns enorm wichtig", sagt Schroeder. Mit "uns" meint sie Mitstreiterin Nina Gühlstorff und den Verein Nyx , für den sie schon einige dieser "Stadtbespielungen" inszeniert hat. Sie und Gühlstorff werden die authentischen Geschichten und O-Töne zur Grundlage für die Schauspieler-Texte machen. Aber auch Münchner Sinti und Roma sowie Anwohner des Viertels sollen das Publikum von Ort zu Ort führen. Angereichert wird die Doku-Collage durch Fundstücke aus der Literatur, historische Quellen und Musik. Der Blick wird nicht nur in die Vergangenheit gehen. Schroeder hat erfahren, dass heute in den verlassenen Bahngebäuden von Berg am Laim immer wieder Menschen aus Osteuropa, unter ihnen Sinti und Roma, Unterschlupf suchen. Manche hausen zeitweise nur unter Plastikplanen.

Die Regisseurin hofft, dass die Zuschauer im Laufe des Rundgangs herausgefordert werden, "sich in einem kontroversen Dialog mit ihren persönlichen Klischees und Vorurteilen auseinanderzusetzen". Die Welt, das sei ihr klar, werde sie mit fünf Spaziergängen in Steinhausen nicht verbessern. "Aber dies ist meine Art, über die Gesellschaft zu reden, mit Theater, ich bin nun mal keine Sozialarbeiterin."

Die Spaziergänge starten am 14., 21., 24. und 25. Juli um 20 Uhr. Am 22. Juli geht es um 19 Uhr los. Treffpunkt ist die Bus-Haltestelle "Hultschiner Straße" gegenüber dem SZ-Verlagsgebäude. Reservierung und Kontakt für Zeitzeugen unter Telefon 0175/522 23 20 (Katrin Dollinger) oder nyx@ratundtat-kulturbuero.de.

© SZ vom 05.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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