SZ-Serie: Vergessene Orte im Münchner Umland:Im Dornröschenschlaf

Lesezeit: 5 min

Rund um den Wörthseeblick erobert sich die Natur den Raum zurück. (Foto: Georgine Treybal)

Früher kamen im "Wörthseeblick" Fischer, Frühschopper und Sommerfrischler zusammen. Seit zwölf Jahren übernimmt hier der Wildwuchs. Über ein Filetgrundstück ohne Aussicht.

Von Viktoria Spinrad, Wörthsee

Die Fenster sind zerborsten, teils fehlen sie ganz. Die Fassade bröckelt und ist mit roten Graffiti bekritzelt. Vom Dach hängt ein Kabel herab, im Erdgeschoss kommt eine Plane herunter. Drumherum ist praktisch alles zugewachsen, mit Bäumen, Büschen und Brennnesseln. Vögel zwitschern, ein Bach plätschert, Sonnenstrahlen kämpfen sich durchs Dickicht. Der Wörthseeblick, ein einst stolzer Gasthof am glitzernden Nordufer des Sees, ist heute ein Stillleben im Unkrautdschungel.

Eines in Bestlage. Nur wenige Schritte sind es über die Straße an den Wörthsee, wo an diesem Septembertag Anwohner und Ausflügler in der Sonne liegen und auf ihren Stand-Up-Boards über das Wasser gleiten. Ob sie wissen, dass sich hier in den Dreißigerjahren Menschen in einer eigenen Badeanstalt vergnügten? Dass im Haus hinter dem Dickicht in den Fünfzigerjahren Friseure in den neuesten Techniken geschult wurden? Dass hier in den Siebzigern der CSU-Kreisvorstand um seine Liste für den Kommunalwahlkampf rang?

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Wohl kaum. Von außen ist beim Besuch in Steinebach praktisch nichts zu erblicken vom Wörthseeblick, diesem Symbol der Verfahrenheit im Postkarten-Oberbayern. Selbst der geschwungene Schriftzug mit dem Namen ist zugewuchert. Das kleine Eingangstor an der südlichen Seestraße ist mit einem Schloss versperrt, an der Maistraße im Osten bedeutet ein Absperrband, dass hier Ende im Gelände ist. Um den früheren Ortstreff stehen Bauzäune.

Ob dahinter noch Spuren der früheren Biergartenjahre zu finden sind? Es noch mehr Graffiti an den Wänden gibt? Oder sich die Tierwelt hier längst heimisch gemacht hat? All das muss der Fantasie überlassen bleiben. Die Eigentümergemeinschaft ist vorsichtig geworden, seit Berichte über den "Schandfleck" des Orts erschienen sind. Mal das Tor zur Maistraße 19 aufsperren? Das wollen sie nicht.

Es bleibt also nur der Gang drumherum. Um die Geschichte eines Hauses, das stummer Zeuge von Nazizeit, Zweitem Weltkrieg und der Wirtschaftswunderjahre ist und heute vielen im 5000- Einwohner-Ort als klassisches Spekulationsobjekt erscheint. Hier, wo selbst ein halb so großes Grundstück auch mal für über sieben Millionen Euro feilgeboten wird. Wie konnte es so weit kommen? Und wie könnte der Wörthseeblick aus dem Dickicht der Gemengelagen wieder herausfinden?

Das Tor ist verschlossen und spinnenwebenverhangen... (Foto: Georgine Treybal)
...das Haus selbst ist mit Bauzäunen abgesperrt. Dahinter regiert der Verfall. (Foto: Georgine Treybal)

Die Geschichte des Wörthseeblicks ist ein Lehrstück darüber, warum gerade in Premiumlagen manchmal sehr lange nichts vorangeht. Wann seine Geschichte mit Mörtel und Ziegeln beginnt, weiß keiner so genau. Fest steht: Im Jahr 1930 geht das Haus eher zufällig in den Besitz der jetzigen Eigentümerfamilie über. Laut der Überlieferung innerhalb der Familie schuldete der vormalige Hauseigentümer ihrem Vorfahren Geld für Holzlieferungen. Wohl um zu vermeiden, dass er am Ende mit nichts dasteht, übernimmt er die Hypothek für den Wörthseeblick und wird so zum Eigentümer des 4200 Quadratmeter großen Areals.

Dieses steht damals noch auf Etterschlager Grund, erst 1972 sollten Steinebach, Auing, Etterschlag, Walchstadt und Schluifeld zur heutigen Gemeinde "Wörthsee" verschmelzen. Entsprechend ist es auch der Blick ins Protokollbuch der früheren Gemeinde Etterschlag, der verrät, dass hier am 15. Dezember 1930 die Geburtsstunde der Gastwirtschaft schlägt. Es ist ein Metzgermeister aus Oberammergau namens Max Deck, dem der Weg freigemacht wird. Ein Jahr später kommt einem Mann namens Georg Haslacher dieselbe Ehre zuteil. "Die Bedürfnisfrage ist gege[be]n", heißt es im Protokollbuch.

Zwischen 1933 und 1944 thront der Wörthseeblick noch frei in der Landschaft. (Foto: Archiv Wörthsee)
Sogenannte "Sommerfrischler" erholen sich am Seeufer. (Foto: Archiv Wörthsee)
1999 feiern die selbsternannten "Laketown Cowboys" aus Herrsching hier eine Frühlingsparty - ohne Pferde, dafür aber mit Westernhüten und Zelt. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Trotz Wirtschaftskrise prosperiert der Wörthseeblick. Stolz steht er in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in der Landschaft, einer Zeit, als das Volk zum Erholen eben noch nicht in einen Flieger nach Mallorca stieg. Auf einem historischen Bild aus der Zeit sieht man die Tische und Stühle im Biergarten, die vor dem Haus in Reih und Glied angeordnet sind, und Schwimmer im See. Blitzblanke Fassade statt bröckelnder Putz, geschnittene Hecken statt Urwald. Ob hier Bauern oder Nationalsozialisten ihre Parolen schwangen oder Kinder im Krieg unterkamen, all das ist offen. Im Archiv der Gemeinde sind nur wenige rudimentäre Stichpunkte hinterlegt.

So auch der Umstand, dass hier in den Fünfzigerjahren eine Firma mit dem sperrigen Namen "Carin Kosmetik Chemische Fabrik P. & H. Appel GmbH" ein Erholungsheim für Firmenmitarbeiter betreibt. In einem Frisör-Fachstudio werden die Mitarbeiter in neuen Techniken geschult, ein Tischbillard und ein Spielautomat sollen für Zerstreuung sorgen.

Wie sehr der Wörthseeblick in den darauffolgenden Jahrzehnten zum Dreh- und Angelpunkt der Gemeindelebens wird, lässt sich aus dem Archiv der 1977 gegründeten Starnberger Regionalausgabe der SZ rekonstruieren. Bei einem Filmabend werden die Verkehrsteilnehmer im Landkreis zur "Aufklärung und Belehrung" geladen, wobei die Kombination aus Auto und Alkohol sicherlich eine Rolle gespielt haben dürfte. Letzteres fließt verbürgtermaßen beim Grillabend der örtlichen Landjugend am Badeplatz, die 1974 "mit Würstl vom Rost und Bier vom Faß" feierte.

Mit Schautafeln und Dias rückt 1980 ein Referent der Antidrogenkoalition an

Gleichzeitig soll Exzessen dort Einhalt geboten werden: 1980 lädt die Junge Union unter dem Motto "Krieg dem Rauschgift" zu einem Informationsabend "über das Drogen-Problem". Inwieweit der Referent der Antidrogenkoalition mithilfe seiner Schautafeln und Dias nachhaltigen Eindruck bei der Dorfjugend macht, ist aber nicht überliefert. Wohl aber, dass hier die Friedinger Blaskapelle den Fischern einheizt und eine Schwabinger Blues- und Blechbläserband den Frühschoppern.

Ein paar Schritte um das überwucherte Grundstück herum. Schade sei es um den "Wörthseeblick", sagt ein Anwohner. Ein anderer, der in der Garage an seinem SUP-Board hantiert, sieht durchaus Vorteile in der ruhenden Ruine: So sei es zumindest still. Im Ort haben sie sich längst arrangiert mit ihrem Lost Place, viele hier kennen es ja gar nicht anders, so lange herrscht hier schon der Verfall, was sich so schnell auch nicht ändern dürfte.

2008 vermietet die letzte Pächterin Zimmer an Bedürftige. Das Kreisbauamt schlägt Alarm: Holztreppen und -türen, fehlende Fluchtwege, Teppichböden und offen herumhängende Elektroleitungen stellten im Falle eines Feuers "eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Bewohner und Gäste dar". (Foto: Georgine Treybal)
2013 steht das Gebäude bereits seit zwei Jahren leer. Fremdenzimmer, Gaststätte und Biergarten? "Nicht finanzierbar", argumentiert die Eigentümerin. Mit ihrem Vorschlag, drei einstöckige Wohnhäuser auf dem Grundstück zu bauen, holt sie sich eine Abfuhr beim Gemeinderat. (Foto: Georgine Treybal)
2018 wächst das Areal immer weiter zu. Die Eigentümerfamilie macht einen weiteren Vorstoß und schlägt mehrere Gebäude mit bis zu drei Geschossen und eine kleine Gastronomie vor. "Das ist keine vernünftige Planung", sagt Bürgermeisterin Christel Muggenthal (SPD). (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Heute gleicht das Areal einem Dschungel. (Foto: Georgine Treybal)

Bis in die Achtzigerjahre hinein wird hier noch diskutiert, mal über die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft, wie die EU damals noch hieß, mal über die vielen Windsurfer, die den Wörthsee unsicher zu machen drohen, und mal über die Rolle der Fischer, die hier zwischenzeitlich ihr Vereinsheim ansiedeln. Das Geschäft mit Brezn und Gebräu war auch damals schon ein volatiles, und so schimpft der damalige Wirt 1984 über seine "Hundert-Stunden-Woche mit zwei Mark Stundenlohn, wenn das Wetter so bleibt".

Schleichend setzt der Niedergang der einst prächtigen Gaststätte ein. Die Bausubstanz gilt bereits als verbraucht, als der Gemeinderat 1990 den Wörthseeblick im Bebauungsplan als "Biergarten, Restaurant, Pension" zementiert. Zum Unmut der Eigentümerin, die sich wohl deutlich lukrativere Wohnungen gewünscht hätte. Sein Gnadenbrot fristet der Wörthseeblick noch als Treffpunkt für Westernfans und Heimat Inninger Billardspieler. Doch auch sie nehmen wieder Reißaus. "Dort herrschte einfache eine schlechte Billardatmosphäre", lästert einer. Sein letztes Kapitel erlebt die Gaststätte als Obdachlosenunterkunft, seit 2011 steht das Gebäude leer.

Die Gemeinde will Gastro, die Eigentümer Wohnungen. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht

Seitdem herrscht zwischen der Eigentümerfamilie und der Gemeinde ein Tauziehen um die Zukunft des Areals. Die Besitzer setzen vor allem auf Wohnungen, die Gemeinde wiederum auf Gastronomie und Beherbergung: ein kommunalpolitisches Patt ohne Aussicht auf einen Kompromiss. Eine Situation, wie sie längst kein Einzelfall ist im Münchner Umland, wo die Quadratmeterpreise immer weiter nach oben gehen. Dass über Jahrzehnte nichts vorangeht, findet man aber selbst beim Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München ungewöhnlich. "In der Regel findet sich eine Einigung", sagt Geschäftsführer Marc Wißmann.

Heute ist auf beiden Seiten nach Jahren des Hin und Her inklusive Bürgerworkshops eine gewisse Resignation herauszuhören. Eine "konstruktive, ergebnisorientierte Zusammenarbeit" mit der Gemeinde sei seit geraumer Zeit nicht möglich, erklärt die Eigentümerfamilie auf Anfrage, weshalb man weitere Bemühungen "schweren Herzens" eingestellt habe. Bei der Gemeinde wiederum sieht man die Sache nüchtern. Er verstehe ja, dass man als Besitzer "das Maximale rausholen" wolle, sagt Vize-Bürgermeister Josef Kraus (CSU). Aber es müsse eben ein moderater Vorschlag kommen, der zu den Vorstellungen der Gemeinde passe.

So dürfte der Wörthseeblick ohne Wörthseeblick noch länger im Schutz des Dickichts vor sich hin schlummern. Die Fassade wird wohl noch etwas weiter bröckeln, seine Erinnerungen hinter den Gebüschen weiter zuwachsen. 4200 Quadratmeter Stillleben, 4200 Quadratmeter Fingerzeig der Natur an den Menschen, die zu raunen scheint: Zankt euch nur weiter, ich mach mich derweil breit.

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