Integration:Die Kultur der neuen Heimat verstehen lernen

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Bei der Kleideranprobe (von links): Sophie Hechler, Marina Zwerger, Ulrike Roos, Sarah Schellinger, Sebastian Junker, Emily Schretter, Brigitte Günczler und Jeanne Dees. (Foto: Nila Thiel)

Bei der Nachbarschaftshilfe in Weßling drehen Einheimische und Geflüchtete einen Film über das Leben des Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach. Ein Probenbesuch.

Von Patrizia Steipe, Weßling

Vorsichtig öffnet Kostümbildnerin Brigitte Günczler Kleidersäcke, Taschen und Schachteln und holt ihre sorgsam in Papier eingeschlagenen Schätze hervor: Locker fließende Kleider im Empire-Stil sind darunter, eine "Chemise à la Reine", das ist ein duftig-leichter Umhang, der zu Zeiten der französischen Königin Marie Antoinette getragen wurde, ein bordeauxfarbiges Renaissance-Kleid mit Schleppe, lange Röcke, Mieder und eine Vielzahl an Woll- und Seidenanzügen für Männer mit dreiviertel langen Hosen, Westen und frackartige Jacken. Von der Laienschauspieltruppe des Integrationspunkts Weßling (IPW) war die Kostümbildnerin schon voller Vorfreude erwartet worden. Denn sie brachte die historischen Kleidungsstücke mit, die beim Film über das Leben des Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach (1850 bis 1920) mitmachen.

Es ist bereits der neunte Film, den die integrative Theatertruppe, bestehend aus Einheimischen und Geflüchteten, unter der Leitung von Ulrike Roos realisiert. Und das mit Erfolg. Für den Kurzfilm "Renoir und seine Zeit in Weßling" gab es im vergangenen Jahr sogar den oberbayerischen Integrationspreis in der Kategorie "Kultur". Jetzt habe sie ein Drehbuch über den Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach geschrieben, einen Zeitgenosse des Malers Pierre-Auguste Renoir, erklärt die Weßlinger Künstlerin und Kunstpädagogin. Geprobt wird im Seehäusl der Nachbarschaftshilfe, zu welcher der IPW gehört.

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Unterstützt wird Roos von zwei Weßlinger Künstlerinnen, einer Münchner Kunst- und einer Museumspädagogin. Die historischen Kostüme werden für den letzten Teil des Films benötigt. Drei Teile sind schon abgedreht. Dazu ist die Gruppe nach Ohlstadt bei Murnau gefahren, hat im ehemaligen Jagdhaus und in der Sommervilla von Kaulbach gedreht. Den vierten Teil wird Filmemacher Tjark Lienke Anfang April im Künstlerhaus am Münchner Lenbachplatz aufnehmen. Zwei Szenen sind geplant. In einem spielt die Gruppe eine Sitzung, auf der ein Künstlerfest besprochen wird. Dafür schneiden Helfer kleine Pappfiguren aus und kleben sie auf. Es sind Requisiten, die für den Film benötigt werden. In der Szene sollen Einladungskarten ausgesucht werden. Bei der anderen Szene geht es um eine Probe für das Fest, das im Jahr 1912 angesiedelt ist. Auf dem sollen die Gäste ein Bilderraten mimen, bei dem Figuren aus berühmten Gemälden nachgestellt werden - dafür die historischen Gewänder.

Die Idee hatte Roos nicht ohne Hintergedanken. Um die Originalgemälde zu studieren, hat sie die Gruppe für Museumsbesuche im Bayerischen Nationalmuseum, in der Pinakothek und in der Villa Stuck begeistern können. Und da kommt der Kostümfundus von Günczler ins Spiel, aus dem Kleider und Anzüge, die den Originalen ähneln, ausgesucht werden. "Die Kleider habe ich nach authentischen Vorbildern geschneidert", erklärt sie, breitet sie vorsichtig auf den zusammengestellten Tischen aus und streicht die edlen Seiden- und Wollstoffe liebevoll glatt. Auch das "drunter" müsse wie damals sein, damit dann die Körperhaltung passt, betont Günczler und holt Unterhemden, Schnürbrüste und - mieder hervor. Auf ein dunkelrotes Mieder ist sie besonders stolz. "Das habe ich nach einem Vorbild aus dem Bayerischen Nationalmuseum genäht."

"Theaterspielen ist mehr, als Text auswendig lernen und aufsagen"

Immer wieder geht die Kostümbildnerin auf die Knie, um Säume abzustecken, nimmt Stecknadeln, um ein Oberteil enger zu stecken oder eine Hose anzupassen. Bis alles richtig sitzt, dauert es schon mal zehn Minuten. Mit den Kleidern scheinen die Männer und Frauen in ihre neuen Rollen geschlüpft zu sein. Fast ein wenig ehrfurchtsvoll bewegen sie sich durch den Raum. Während einige von ihnen bereits Erfahrung mit der Schauspielerei unter Roos haben, ist es für die drei Ukrainerinnen das erste Mal. Trotz der Sprachbarrieren ist die Stimmung ausgelassen. Die ungezwungene Atmosphäre und das Proben für das gleiche Ziel würden sehr beim Sprachelernen helfen, weiß Roos. Sie hat bei ihren vergangenen Filmprojekten die Erfahrung gemacht, dass sich die Sprachkenntnisse der Geflüchteten enorm verbessert hätten, "und das ganz ohne langweiligen Deutschkurs", freut sie sich. Außerdem würden die Geflüchteten über die Kultur ihre neue Heimat besser kennen und verstehen lernen.

Unter den Schauspielern sind an diesem Tag auch drei Mädchen, die im Film die Töchter der Familie Kaulbach spielen. Sie stammen aus Ohlstadt, wo die Kaulbachvilla heute ein Museum beherbergt und wurden so ausgewählt, dass sie der braunhaarigen und den beiden blonden Künstlertöchtern, die der Maler in Gemälden porträtiert hat, ähnlich sehen. Nachdem die Kleiderfrage geklärt ist, bereitet Improvisationscoach und Schauspielerin Sophie Hechler die Gruppe mit Übungen auf ihre Rollen vor. Entspannt und locker sollen alle sein und sich ein inneres Bild von ihrer Rolle machen. "Theaterspielen ist mehr, als Text auswendig lernen und aufsagen", weiß sie. Wenn alles gut geht, soll der Film im Herbst fertig werden.

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