Tutzing:Auf Raubkunstjagd im Schloss

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Die Provenienzforscherin Kerstin Holme ist derzeit auf Raubkunstsuche im Schloss Tutzing. Hier steht sie vor einem Renaissance-Relief. (Foto: Georgine Treybal)

Derzeit sucht die Forscherin Kerstin Holme in der Evangelischen Akademie nach von Nazis geklauter Kunst. 237 Objekte durchleuchtet sie derzeit. Logistisch ist das nicht immer einfach.

Von Katja Sebald, Tutzing

Muss man in einem Schloss, das im Kern aus dem 17. Jahrhundert stammt, nach NS-Raubkunst suchen? Nach zwei Tagungen zum Thema Provenienzforschung in seinem Haus befand Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie und Schlossherr in Tutzing, im Jahr 2019: Man muss. Er beantragte eine entsprechende Förderung beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und stellte im September 2022 die Kunsthistorikerin Kerstin Holme ein. Das Provenienzforschungsprojekt war zunächst auf die Dauer eines Jahres beschränkt und ist nun noch einmal um zwei Jahre verlängert worden - erste Ergebnisse gibt es bereits.

Holme studierte in München Geschichte und Kunstgeschichte, nach ihrer Promotion arbeitete sie unter anderem im Kunsthandel. Bei ihrer Detektivarbeit im Tutzinger Schloss profitiert sie auch von ihren Erfahrungen und nicht zuletzt von ihrem Netzwerk aus der Zeit in einem Auktionshaus. Um eine vollständige Liste aller in den Schlossgebäuden vorhandenen Kulturgüter zu erstellen, musste sie aber manchmal auch die Ärmel hochkrempeln und auf dem Dachboden stöbern.

Unter den insgesamt 237 Objekten, deren Herkunft sie möglichst lückenlos erforschen muss, befinden sich nicht nur die Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken an den Wänden, sondern auch die Skulpturen im Garten, die antiken Möbel und sogar die Öfen aus verschiedenen Epochen. Auch einige wertvolle alte Bibeln gehören zum Bestand des Hauses.

Erwerbs- und Eingangsbücher gibt es nicht. Nach der Bestandsaufnahme und akribischen Untersuchung der einzelnen Objekte muss sich die Forscherin deshalb tief in die Archive eingraben. Das Schloss hat allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viermal den Besitzer gewechselt. Kaufverträge sowie Schätz- und Inventarlisten, die vor den jeweiligen Verkäufen erstellt wurden, Auktionskataloge und vor allem Zufallsfunde sind das Material, aus denen sie ihre Erkenntnisse gewinnen kann. Ergebnisse und Teilergebnisse gleicht sie mit der Lost-Art-Datenbank ab: Hier werden Kulturgüter dokumentiert, die ihren - meist jüdischen - Eigentümern während der NS-Diktatur unrechtmäßig entzogen wurden.

In Tutzing ist die Situation besonders komplex: Denn unter den Besitzern des Schlosses waren sowohl Opfer als auch Profiteure des NS-Regimes. Der ungarische Maler und Kunstsammler Marczell von Nemes, eine schillernde Persönlichkeit, hatte das Schloss 1921 gekauft und es nach umfänglichen Renovierungen kostbar ausgestattet. Als er hoch verschuldet im Jahr 1930 starb, wurde ein großer Teil seiner Sammlung in verschiedenen Auktionen versteigert. Sowohl Nemes selbst als auch seine Testamentsvollstrecker galten nach der nationalsozialistischen Rassenideologie als jüdisch.

Akademiechef Udo Hahn (rechts) hat den Anschub für die Untersuchung gegeben. "Für uns als Akademie ist es wichtig, die Geschichte des Hauses zu erforschen", sagt er. (Foto: Georgine Treybal)
Auch ein Renaissance-Tondo wird betrachtet. (Foto: Georgine Treybal)
Genau wie dieser spätrömische Marmor-Sarkophag aus dem 2.-4. Jahrhundert. (Foto: Georgine Treybal)

1936 wurde das Schloss nach mehreren Jahren Leerstand an Helene Hackelsberger-van Eyck aus der Weck-Gläser-Dynastie verkauft. Ihr Mann war der katholische Zentrumspolitiker Albert Hackelsberger, der 1938 in Tutzing von der Gestapo wegen "Volksverrat" sowie angeblicher Devisen- und Steuervergehen verhaftet wurde und zwei Jahre später im Gefängnis starb, bevor die Anklage erhoben worden war.

Hackelsbergers Nachlass wurde von der Gestapo beschlagnahmt und Teile seiner Kunstsammlung im Oktober 1940 in Berlin als "Sammlung Schloss Tutzing" versteigert. Das Schloss selbst verkaufte seine Witwe 1940 an Ida Kaselowsky, Erbin der Firma Oetker in Bielefeld und Ehefrau des SS-Offiziers Richard Kaselowsky. Von ihrem Sohn Rudolf-August Oetker erwarb in der Nachkriegszeit die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern das Schloss, seit 1949 beherbergt es offiziell die Evangelische Akademie Tutzing.

"Für uns als Akademie ist es wichtig, die Geschichte des Hauses zu erforschen", sagt Udo Hahn. Die Evangelischen Akademien seien Orte der Zivilgesellschaft, man wolle Unrecht aufklären, der Opfer gedenken und Verantwortung übernehmen. Im Schlosshof, dem Ort seiner Verhaftung, wurde vor einigen Jahren eine Gedenktafel für Albert Hackelsberger angebracht. Man stehe mit den Nachkommen in engem Kontakt, berichtet Hahn. Restitutionsforderungen gebe es jedoch nicht: Ganz im Gegenteil, man habe als Schenkung ein dem englischen Maler Thomas Lawrence zugeschriebenes Gemälde bekommen, das seit der Tutzinger Zeit in Familienbesitz war.

Einmal fiel ein Ordner hinter einem Archivregal runter

Kerstin Holme entdeckte vor einiger Zeit das Foto einer Louis-Seize-Kommode in einer Verkaufsbroschüre von Schloss Tutzing aus dem 1931. Die Kommode steht heute noch im sogenannten Blauen Salon und darf deshalb als unbedenklich eingestuft werden. Auch die Provenienz von zwei großformatigen Zeichnungen, die Wilhelm von Kaulbach im Auftrag von König Ludwig II. angefertigt hatte, konnte sie aufklären - und zwar mithilfe eines Ordners, der hinter einem Archivregal herunterfiel, als sie dort etwas ganz anderes suchte.

Eins der prominentesten Gemälde aus den Beständen des Schlosses aber lässt bis jetzt nicht einmal die sogenannte "Rückseitenautopsie" zu: Die "Anbetung der Eucharistie durch die weltliche Macht" wurde im 17. Jahrhundert in der Rubensschule angefertigt, womöglich legte sogar der Meister selbst mit Hand an.

Seit vielen Jahren hängt das Bild im Musiksaal der Akademie. Und dort wird es wohl auch bleiben: Mit seinem mächtigen Rahmen ist es fast fünf Meter hoch, mehr als drei Meter breit und wiegt mehr als 600 Kilo. Würde man versuchen, es abzuhängen, um auf seiner Rückseite nach Hinweisen auf frühere Besitzer zu suchen, wäre nicht nur das Bild selbst, sondern wegen des enormen Gewichts auch der Fußboden in Gefahr.

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