SZ-Adventskalender:Leben ohne Bauchgefühl

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Christina B.'s neunjähriger Sohn Moritz leidet an Asperger-Autismus, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Ihr jüngerer Bub Peter ist stark sehbehindert. Dazu kommen noch die finanziellen Sorgen der Familie

Von Blanche Mamer, Starnberg

Ein Kind im Rollstuhl erregt bei den meisten Menschen Mitleid. Ein Fünfjähriger aber, der schlimme Wutausbrüche hat und übelste Schimpfwörter herausschreit, bekommt höchstens verständnislose Blicke. Und die Mutter wird mit Vorwürfen überschüttet, weil sie dem Sprössling zu viel durchgehen lässt. Moritz sei so ein "schlecht erzogenes" Kind, sagen die Leute. "Zuerst habe ich gedacht, dass er eine schlimme Trotzphase hat und dass es besser wird", sagt seine Mutter Christina B. (Name geändert). "Doch als die ersten Tage im Kindergarten immer schlimmer wurden, wurde mir klar, dass da doch mehr dahinter sein müsse." Aber erst nach Monaten und vielen Besuchen bei Kinderärzten, Neurologen und beim Kinderpsychiater kam die vorsichtige Diagnose Asperger-Autismus, die später bestätigt wurde.

Körperlich war Moritz ganz normal entwickelt, er sprach gut, zwei Sprachen fließend, tschechisch und deutsch, und konnte problemlos von der einen Sprache in die andere springen. Seine Mutter stammt aus Tschechien, sein Vater ist Deutscher. "Wir lebten damals in Tschechien. Wir waren bei so vielen Ärzten, bis wir zu einer Psychotherapeutin kamen, einer älteren Dame, die erstmals von Autismus sprach", erzählt Christina B. Als ihr deutscher Schwiegervater starb und die Oma allein nicht mehr gut zurecht kam, zog die Familie nach Bayern, in den Landkreis Starnberg. Moritz kam gleich in den Kindergarten, denn im Herbst sollte er ja eingeschult werden. Klar, dass es Probleme gab, der Umzug war nicht so einfach, der Mann fand einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma.

Gestik oder Mimik anderer Menschen können Patienten mit Asperger-Syndrom nur schwer deuten - für die Angehörigen eine Herausforderung. (Foto: Shannion Stapleton/Reuters)

Vom Kindergarten wurde eine Psychologin der Fünf-Seen-Schule eingeschaltet. Der Verdacht: Asperger-Autismus. Moritz bekam einen Platz in einem heilpädagogischen Kindergarten, seine Symptome milderten sich ein wenig. Er kann nichtsprachliche Signale wie Gestik oder Mimik bei anderen Personen schwer deuten. "Er hat kein Bauchgefühl, er löst alle Situationen über den Verstand. Wir erklären ihm viel, sagen ihm, warum er keine üblen Wörter benutzen darf, dass es respektlos ist." Der Bub, der bald neun Jahre alt wird, ist hochintelligent, lernt schnell, hat ein Supergedächtnis. Mit seinem Schulbegleiter geht in eine reguläre Grundschule. Er muss aber ständig Beruhigungstabletten nehmen, sagt seine Mutter. Sie ist sich sicher, dass es langsam aufwärts geht.

Doch auch ihr jüngerer Sohn Peter ist ein Sorgenkind. Der Bub ist sechs und stark sehbehindert, was leider erst spät festgestellt wurde. "Mir fiel auf, dass er Wahrnehmungsstörungen hat", sagt Christina B. Er hat sechs Dioptrien, braucht eine sehr starke Brille. Er sei ein Jahr zurückgestellt worden, besuche nun den gleichen Förderkindergarten, der seinem Bruder so gut getan hat. Er muss sich erst an die klare Welt um ihn herum gewöhnen. Zu den vielen Sorgen kommen noch wirtschaftliche Probleme dazu: Christina B. kann nur stundenweise arbeiten, auf 450 Euro-Basis. "Ich war vor 13 Jahren als Au-pair in Starnberg und habe immer zu der Familie Kontakt gehalten. Sie haben mir einen kleinen Bürojob in ihrer Firma gegeben." Das nennt sie großes Glück, trotzdem reichen ihre Löhne kaum für das tägliche Leben.

So wird die Bescherung wohl ausfallen. Auf dem Wunschzettel steht zum Beispiel eine Nintendo-Spiele-Konsole. Beide Buben sind fit am Computer. Christina B. selbst traut sich kaum, ihren Wunsch laut zu sagen: Einmal zu viert wegfahren und zum Beispiel einen Freizeitpark besuchen.

© SZ vom 04.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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