SZ-Adventskalender:Ein täglicher Kampf

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Alle wollen Inklusion, doch Wunsch und Realität klaffen weit auseinander: Das müssen Menschen mit Behinderung immer wieder feststellen. Die größte Sorge bleibt der Arbeitsmarkt

Von Carolin Fries, Starnberg

"Wir müssen um alles kämpfen." Das ist ein Satz, den Martina Brandt immer wieder von den Eltern zu hören bekommt, deren Kinder einen Platz in der Heilpädagogischen Tagesstätte der Lebenshilfe in Starnberg haben, die sie leitet. Was dann folgt, sind keine Schilderungen, wie sie versucht haben, dem geistig behinderten Kind neue Worte zu entlocken oder von den ersten gemeinsamen Gehversuchen - sondern Geschichten von bürokratischen Hürden, von haufenweise Anträgen und Formularen, die den Alltag zusätzlich belasten.

Es ist ein Kampf, der Menschen mit Behinderung meist ihr ganzes Leben lang begleitet. Denn auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt es für sie kaum Stellenangebote. In den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wiederum ist der Verdienst wesentlich geringer, "eine ausreichende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist damit nicht immer möglich", sagt Annette Werny von der Lebenshilfe.

Der Arbeitsmarkt ist auch das größte Sorgenkind des Behindertenbeauftragten im Landkreis, Maximilian Mayer. "Wir können bislang zu wenig Arbeitgeber überzeugen, das Fachkräftepotenzial zu sehen", sagt er mit Verweis auf die mitunter vorhandenen besonderen Fähigkeiten von beeinträchtigten Menschen. Ohne gut bezahlten Job wiederum sei es für beeinträchtigte Menschen kaum möglich, eine Wohnung auf dem freien Markt zu finden. Damit fehlen in der Regel "die Basics für ein erfülltes, individuelles Lebens", wie Ruth Habesreiter von der Offenen Behindertenarbeit des Bayerischen Roten Kreuzes in Starnberg sagt. Es entstehe eine Art Teufelskreis, der bewirkt, dass Menschen mit Behinderung in bestehenden Strukturen hängen blieben. "Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten bleiben dann gering, schon weil es keine Vorbilder gibt oder sich erst gar keine Ideen für neue Wege und Möglichkeiten ergeben." Martina Brandt fasst es in deutlichen Worten zusammen: "Die Inklusion ist in aller Munde, doch Wunsch und Realität klaffen weit auseinander."

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(Foto: SZ)

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Insgesamt lebten zuletzt 13 831 Menschen mit Behinderung im Landkreis, davon sind 9 726 schwer behindert. "Die meisten sind über 50 Jahre alt", sagt Mayer. Er sagt, dass Menschen mit Behinderung immer mehr akzeptiert würden, "das Bewusstsein ändert sich". Auch Annette Werny von der Lebenshilfe spricht von einer "hohen Akzeptanz". Ruth Habesreiter indes muss oftmals noch feststellen, dass diese Akzeptanz kaum selbstverständlich ist, beziehungsweise nur punktuell vorhanden ist. So gebe es etwa kaum inklusive Freizeitangebote. Eine positive Ausnahme sei der Verein "Fotowilde" in Starnberg, in dem Menschen mit und ohne Behinderung ihrem Hobby, der Fotografie, nachgehen. "Die Behinderung des einzelnen spielt dabei keine Rolle." Sie will nicht ausschließen, dass es im Landkreis vergleichbare Angebote gibt, doch "hier ist noch viel Luft nach oben", so Habesreiter. Martina Brandt beobachtet, dass in den Kitas meist noch ein gutes Miteinander möglich ist, auch in der Freizeit. Doch kaum setze der Leistungsdruck in der Vorschule ein, filtere das System gnadenlos - wer nicht mithalten kann, fällt raus.

Brandt kennt die Nöte von Familien mit einem behinderten Kind, dessen Zukunft sich nicht planen lässt. Zu groß sind die Unwägbarkeiten. Was sie sich für diese Familien wünscht? "Dass man ihnen Zeit und ein Ohr schenkt." Es schmerzt sie, wenn sie hören muss, dass Familien nicht ins Restaurant gehen - aus Angst vor den Blicken, "weil das Kind nicht hübsch ist". Brandt wünscht sich neue Sichtweisen. "Ein behindertes Kind etwa hat keine Strategie. Es ist immer herzoffen."

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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