SZ-Adventskalender:Angst und Scheu

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Der vierjährige Michael leidet an einem seltenen Gendefekt. Er braucht eine spezielle Brille mit Filter

Von Blanche Mamer, Starnberg

Beim Kinderlied "Backe backe Kuchen" beruhigt er sich. Kinderlieder helfen, seine Angst zu überwinden und seine Aufmerksamkeit zu wecken. "Es ist ein langer Prozess und wir haben noch einen weiten Weg vor uns", sagt Nina Müller (Name geändert). Ihr jetzt vierjähriger Sohn Michael leidet an einem Gendefekt, dem fragilen-X Syndrom. Eine Blutprobe vor einer Operation brachte die Diagnose. Diese seltene Erbkrankheit zeigt sich in einer Vielzahl von Auffälligkeiten, wie verminderten geistigen Fähigkeiten, Autismus, Angststörungen, Entwicklungsverzögerungen bei Motorik und Sprache, Geräuschempfindlichkeit, extreme Unruhe, stereotypisches Verhalten, Scheu vor anderen Menschen. Michael hat sie alle. "Ich habe ihn ein Jahr lang gestillt, dann hat er die Babynahrung nicht vertragen, hat viel geschrien und ich dachte an eine Milchunverträglichkeit. Doch er konnte uns nicht mit den Augen fixieren. Sein Verhalten ist der Kinderärztin schon bei einer frühen Untersuchung aufgefallen, doch die Gewissheit kam erst durch die Blutuntersuchung", sagt seine Mutter. Die gelernte Kosmetikerin hat alles über die Krankheit gelesen und bemüht sich mit aller Kraft, ihr Kind zu fördern, es zu trainieren, es zu unterstützen, damit es irgendwann selbstständig wird. "Man muss ganz früh beginnen, es gibt viele Möglichkeiten, die Entwicklung zu unterstützen. Michael kann nicht sprechen, nicht allein essen, erkennt keinen Geschmack. Er trägt immer noch Windeln, hat Gleichgewichtsstörungen, ist sehr unruhig, wedelt mit den Händen, leidet unter Albträumen und Schlafstörungen. Er wacht immer sehr früh auf, manchmal schon nachts um drei. Er ist sehr scheu, hat Angst vor lauten Geräuschen, aber zugleich bekommt er heftige Wutanfälle. Doch er liebt den Kindergarten, die anderen Kinder und die Erzieherinnen. "Wenn ich ihn bringe, muss er guten Morgen sagen. Erst dann darf er zu seiner geliebten Kugelbahn", sagt Nina Müller und erklärt: "Er bekommt alles was er will, doch er muss es sagen und das ist schwierig. Nur so lernt er es."

Alles Gelernte muss immer wieder wiederholt werden, Spiele aus dem Kindergarten müssen daheim nachgespielt werden. Derzeit lernt er Buchstaben erfassen. Er sei sehr visuell, erkenne Bilder wieder, erzählt seine Mutter. Neuere Forschungen schreiben den Kindern ein gutes bis fotografisches Gedächtnis zu, die durch Nachahmung lernen. "Wichtig ist, dass sich die Eltern austauschen und dass sie sich auch um sich selbst kümmern", sagt Anja Frankenberger von der Stiftung Kindness for Kids, die sich für Kinder mit seltenen Krankheiten einsetzt. Bei Ferienfreizeiten für die Familien habe man die Erfahrung gemacht, dass Arbeit mit Tieren wie heilpädagogisches Reiten wie Wunder wirke, nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Müttern. Nina Müller berichtet, dass eine besondere Verhaltenstherapie der Familie sehr geholfen habe, die ABA-Therapie. Die sei allerdings sehr teuer und die Kasse zahle nur einen Teil davon. Für ihren Sohn wünscht sich Frau Müller eine Irlen-Brille mit farbig eingefärbten Gläsern, die als Filter bei Wahrnehmungsschwierigkeiten fungieren und die bei Autismus und Dyslexie eingesetzt wird. "Michi kann nicht von links nach rechts blicken. Ein Sehtest war nicht möglich, weil er zu viel Angst vor den Geräten hat."

© SZ vom 07.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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