Mitten in Starnberg:Tinnitus und Flusskrebs-Gesang

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Hängt das beides zusammen? Der Jahresbericht der Starnberger Stadtbücherei legt diesen Schluss nahe.

Kolumne von Linus Freymark, Starnberg

Um den Gemütszustand der Starnberger Bevölkerung zu bestimmen, eignet sich bestens der alljährliche Jahresbericht der Stadtbücherei. Erst recht für die Pandemiezeiten, in denen der zwischenmenschliche Kontakt fehlte, gibt die Statistik Auskunft über die Interessen der Menschen. Was beschäftigte sie? Worin fanden sie Trost zwischen Lockdown-Tristesse und Inzidenz-Roulette? Badeten sie in Selbstmitleid oder blickten sie frohen Mutes nach vorne? Ein erster Blick in die Statistik von 2021 erweckt den Eindruck von großer Zuversicht. Immerhin hieß der Ausleihschlager unter den Romanen der Bibliothek "Wir holen alles nach". Die Hoffnung, die Aussicht auf eine bessere Zukunft schien den Nutzern der Bücherei also auch während der düsteren Pandemiewinter nicht abhandengekommen zu sein.

Für größeres Erstaunen sorgt dagegen die Präferenz bei den Hörbüchern. "Der Gesang der Flusskrebse" steht hier an erster Stelle, was dann doch besorgniserregend klingt. War die Sehnsucht nach der Natur so groß, dass die Menschen das Bedürfnis hatten, sich dieses Gefühl wenigstens akustisch ins Haus zu holen? Wie bitteschön klingt es eigentlich, wenn Flusskrebse plötzlich anfangen zu singen? Welches Genre bevorzugen die Schalentiere? Und wer kommt auf die Idee, das aufzunehmen? Fragen über Fragen, die eine kurze Internetrecherche beantwortet: Die Audiodatei besteht mitnichten aus rappenden Hummern, die ihre Interpretation von "Gangsta's Paradise" zum Besten geben. Vielmehr handelt es sich um die Vertonung eines amerikanischen Romans über ein Mädchen mit alkoholabhängigem Vater, das allein in der Natur zurechtkommen muss, nachdem der Papa abgehauen ist. Klingt ja sogar ganz spannend, Sorgen um die geistige Verfassung der Ausleiher: unangebracht.

Aber jetzt: die Sachbücher. Auf Platz eins steht hier das Werk "Tinnitus - Endlich Ruhe im Ohr", und anders als bei den Flusskrebsen hält der Titel, was er verspricht. Das Buch verspricht Tipps im Umgang mit dem ständigen Piepsen, und ja, diesmal muss man sich wirklich Sorgen machen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass die größte Nutzergruppe der Bücherei die unter 18-Jährigen sind. Nicht auszudenken, wenn man in der Schule neben dem Gebrüll der Klassenkameraden auch noch ständig so ein Pfeifen in den Ohren hat. Woher kommt das eigentlich? In dem Buch heißt es unter anderem, Tinnitus entstehe häufig durch hohe Lärmbelastungen. Davon war man doch während der Lockdowns doch eigentlich weitgehend verschont, oder? Fast zumindest. Es könnte ja schließlich sein, dass man zu viel Flusskrebs-Gesang abgekriegt hat.

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