Zeitzeugengespräch:"Es beginnt mit Fremdenfeindlichkeit und endet in der Gaskammer"

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"Unermüdlich weiter erinnern", mahnt der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub bei seinem Besuch in der Munich International School in Starnberg an. (Foto: Georgine Treybal)

In seinem wohl letzten Schulauftritt warnt der Shoa-Überlebende Leon Weintraub an der Munich International School vor der zunehmenden gesellschaftlichen Gefahr von Rechts. Kann es eine lebendige Erinnerung auch ohne noch lebende Erinnernde geben?

Von Kathrin Kessler, Starnberg

Eine kleine Traube von Schülern hat sich nach dem Vortrag auf der Bühne der großen Aula vor Leon Weintraub im Halbkreis auf den Boden gesetzt. Ein Schüler in Kapuzenpulli und schwarzer Lederjacke möchte wissen, ob die Opfer der Shoah angemessen entschädigt wurden. "Oder müsste man da noch was tun?" Weintraub, weißer Schnäuzer, gebundene Fliege, sanfte Stimme, schaut in die Runde, nimmt die Gruppe genau in den Blick. Eine Entschädigung für das, was geschehen ist, gebe es nicht, sagt der 97-Jährige. Man könne nur unermüdlich weiter erinnern. "Das in Vergessenheit geraten zu lassen, wäre, wie die Opfer ein zweites Mal zu töten." Die Jugendlichen nicken zustimmend.

Ein Vormittag an der Munich International School in Starnberg. In der Aula sitzen noch etwa 20 Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren unterschiedlicher Nationalität - die Schule ist traditionell ein Schmelztiegel. Fast eine Stunde hat Leon Weintraub zuvor zu ihnen gesprochen. Über das klackernde Geräusch der Nazis, die mit Nagelsporen unter den Stiefeln im Herbst 1939 in seinem Heimatort Lodz einmarschiert sind. Über seine rettende Arbeit als Elektriker im hiesigen Ghetto und das grausige Schicksal, das seine Familie dort ereilte. Stumm lauschen die Schüler.

Der 97-jährige Leon Weintraub hat insgesamt vier Konzentrationslager überlebt - unter anderem das im oberpfälzischen Flossenbürg. (Foto: imago stock&people/imago/ITAR-TASS)

Leon Weintraub ist einer der letzten Zeitzeugen. Er ist extra aus Stockholm angereist, um dem Gedenktag des Konzentrationslagers Flossenbürg beizuwohnen und seine Geschichte mit den Schülern zu teilen. Es ist einer seiner letzten Auftritte. Nicht mehr lange, und Schülern wie dem Jungen in der Lederjacke bleiben nur noch Geschichtsbücher, Videos, Erzählungen. Wenn aber die letzten Augenzeugen der Shoah von uns gehen, wie kann dann die Erinnerung an diese Verbrechen hierzulande noch lebendig gehalten werden?

Als Weintraub um 10.15 Uhr an das Pult auf der Bühne tritt, verstummen etwa 60 Jugendliche schlagartig. Viele von ihnen tragen Markenklamotten und trendige Sneaker. Es dauert nicht lange, und auch die mit lässigem Fellkragen sitzen gebannt vorne an der Stuhlkante. Die Nazi-Zeit kennen sie hier aus Filmen und Büchern, nun macht Weintraub sie lebendig. Nüchtern erzählt er davon, wie er, der Strebsame mit den guten Noten, eigentlich ans Gymnasium sollte, als die Wehrmacht in Polen einfiel. Wie er im Ghetto landete - und dort Hunger schob. Fünf Jahre, sieben Monate und drei Wochen habe er Hunger gehabt. Und meint damit nicht die Art von Kohldampf, die manche der Schüler hier kennen dürften. "Das ist kein Hunger, was ihr da empfindet." Dieses Gefühl wünsche er niemandem. Die Schüler sind still.

Leon Weintraub (Mitte) umringt von den Schülern Nina (v.l.), Mainika, Schulleiter Timothy Thomas, Sofia und Finn. Seine Biographie "Die Versöhnung mit dem Bösen - Geschichte eines Weiterlebens" ist 2022 im Wallstein-Verlag erschienen. (Foto: Georgine Treybal)

Im Ghetto lackierte er Ösen für Planen, die beim Waffentransport eingesetzt wurden und arbeitete an Motoren. Da habe er "Blut geschwitzt", sagt er. Ein kleines Rad in der großen Kriegsmaschinerie. Als die Russen später immer näher rückten, landete er mit seiner Familie im Vernichtungslager Auschwitz. Er berichtet von den Schornsteinen, aus denen dichter schwarzer Rauch stieg, riechend nach verbranntem Fleisch. Ein paar Schüler rücken auf dem Platz hin und her. "Wir sehen uns drinnen", sagte der damals 18-Jährige zu seiner Mutter am Eingang, sie sollten sich nie wiedersehen. Von 80 Verwandten überlebten nur 15 den Holocaust. Weintraub überlebte, weil er sich heimlich einer Gruppe anschloss, die ins KZ Groß-Rosen gebracht wurde. Ohne Tätowierung, ohne Häftlingsnummer.

Nach dem Krieg entschied er sich für die Medizin. Er wurde Gynäkologe in Stockholm, der vom Tod Verfolgte wurde zum Geburtshelfer für neues Leben. Und er entschied sich, seine Geschichte zu teilen. Aus der Pflicht seinen getöteten Verwandten gegenüber heraus. Und zum anderen, weil rechte, nationalistische Strömungen in Europa immer mehr Zuspruch erlangen. Über 20 000 Straftaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund hat das Bundeskriminalamt 2021 registriert. Als hätten sie alle vergessen, wohin Fremdenfeindlichkeit führen kann. "Es beginnt mit der Fremdenfeindlichkeit und endet in der Gaskammer", sagt Weintraub.

Was wahr ist und was Fake, können Schüler heute oft kaum mehr unterscheiden

Doch auch hier an der Starnberger Schule merken sie, dass der Holocaust für viele Schülerinnen und Schüler sehr weit weg erscheint. Dass etwa 40 Kilometer von hier im Dachauer KZ Menschen ermordet wurden, erscheint vielen undenkbar. Die Gräuel der Zeit, sie gehen vielleicht umso schneller unter im Strudel von Tanzvideos auf TikTok und Instagram. Dazu die Zersetzung des Glaubens an die Wissenschaft. Was wahr ist und was Fake, können Schüler da oft kaum mehr unterscheiden. Umso eindrücklicher sind Begegnungen wie die mit Leon Weintraub.

Wie kann man mahnende Geschichten wie seine in Zukunft teilen? Wie geht es weiter mit dem "nie wieder"? Das Thema bereite ihm Sorgen, sagt er. Längst gibt es virtuelle Formate wie Zeitzeugen als Hologramme, mit denen Didaktiker versuchen, ein Gefühl der Nähe zu den Opfern der Zeit herzustellen. Doch ob dies ein Ersatz für ein Gespräch mit einem Zeitzeugen sein kann? Klar ist: Es sind die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, die die Lehren des Holocaust in Zukunft weitertragen müssen. Sie, sagt Weintraub, seien in der Verantwortung, die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen an die junge Generation weiterzugeben.

Als nach dem offiziellen Teil noch etwa 20 Schüler andächtig um Weintraub herumsitzen, räuspert sich eine Schülerin. Was sein Lebensmotto sei, fragt sie ihn. "Mensch sein", antwortet Weintraub. Als Arzt weiß er ja, dass die Menschen biologisch schlussendlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede teilen, es nur den Homo sapiens gibt. Egal, welche Hautfarbe seine Patienten hatten, wie sie aussahen - "unter der Haut sind wir alle gleich."

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