Zeitzeugen-Gespräch:"Trotz allem, was ich erlebt habe, sage ich noch immer, dass das Leben eine feine Sache ist"

Zeitzeugen-Gespräch: Abba Naor spricht mit den Tutzinger Gymnasiasten Christopher Schultz und Mia Neff über seine Erlebnisse im Nationalsozialismus.

Abba Naor spricht mit den Tutzinger Gymnasiasten Christopher Schultz und Mia Neff über seine Erlebnisse im Nationalsozialismus.

(Foto: Nila Thiel)

Abba Naor ist einer der letzten Zeugen, die die Gräueltaten der Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren haben. Im Gespräch mit Schülern des Gymnasiums Tutzing erzählt er aus diesem dunklen Kapitel seines Lebens - und lässt die Jugendlichen damit tief bewegt zurück.

Von Luzi Power-Feitz

"Das ist etwas anderes als das, was in unseren Schulbüchern steht", sagt Christopher. Am Mittwochmorgen steht der 15-Jährige mit einem Pulli, auf dem das Logo des Super-Helden Batman prangt, in der Mensa des Gymnasiums Tutzing. Es sind noch wenige Minuten bis zum Zeitzeugen-Gespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Abba Naor. Auch die 14-Jährige Mia, schwarzer Lidstrich, grauer Kapuzenpullover, ist gespannt auf das Treffen. "Ein interessantes und gleichzeitig sehr trauriges Thema", sagt sie. Die Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe behandeln den Nationalsozialismus und den Holocaust derzeit im Geschichtsunterricht. Nazi-Ideologie, Konzentrationslager - all das kennen sie bisher nur aus den Geschichtsbüchern. Aber nun ist mit Abba Naor jemand gekommen, der von seinen persönlichen Erinnerungen berichten kann - und das ist eben etwas ganz anderes, als nur darüber zu lesen.

Etwa 80 Jugendliche setzen sich, aus Rascheln wird Stille. Abba Naor ist einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust. Die Neuntklässler des Gymnasiums Tutzing sind eine der letzten Schülergenerationen, die die Möglichkeit haben, mit Zeitzeugen zu sprechen. Gleich zu Beginn fällt auf: Abba Naor ist ein erfahrener Erzähler. Sobald die Atmosphäre zu bedrückend wird, lockert er die Stimmung auf überraschend humorvolle Art auf. "Trotz der schrecklichen Erfahrungen, die Abba Naor machen musste, hat er sich eine große Prise Humor erhalten", sagt Schuldirektor Andreas Thalmaier.

Zeitzeugen-Gespräch: Abba Naor unterhält sich mit (von links) Marie Olinger, Lena Hauenstein, Direktor Andreas Thalmaier, Luisa-Marleen Gerum, Mia Neff , Christopher Schultz und dem Lehrer Sebastian Knoller.

Abba Naor unterhält sich mit (von links) Marie Olinger, Lena Hauenstein, Direktor Andreas Thalmaier, Luisa-Marleen Gerum, Mia Neff , Christopher Schultz und dem Lehrer Sebastian Knoller.

(Foto: Nila Thiel)

1928 in der litauischen Stadt Kaunas geboren, erlebte Abba Naor die Verfolgung der litauischen Juden am eigenen Leib. Nach seiner Deportation ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig 1944 wurde er später in die Außenlager des Konzentrationslagers Dachau in Utting und Kaufering I verlegt. Den Todesmarsch im April 1945 überlebte er dank der Befreiung durch die Amerikaner. Seit Ende 1945 lebt Abba Naor in Israel. Trotzdem nimmt der 94-Jährige Jahr für Jahr die Reise nach Bayern auf sich, um in Schulen von seinen persönlichen Erinnerungen an den Holocaust zu berichten. "Ich wäre längst nicht mehr da, wenn ich diese Sache nicht machen würde; da bin ich mir sicher", sagt Naor.

Die Erinnerungskultur an den Holocaust ist ein hochpolitisches Thema in Deutschland. Laut dem Bundesministerium des Innern steigen antisemitische Straftaten in den vergangenen Jahren stark an. Hinzu kommt, dass sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 37 Prozent der Befragten möglichst nicht mehr mit dem Nationalsozialismus beschäftigen möchten. Alarmierende Zahlen, die zeigen, dass es wichtig ist, immer wieder an die schrecklichen Ereignisse zu erinnern.

Als die Wehrmacht in Kaunas einzog war Abba Naor 13 - so alt, wie die Schüler, die jetzt vor ihm sitzen

Die Jugendlichen hören Abba Naor gebannt zu, als er aus seinem Leben erzählt. Er spricht über seine frühe Kindheit, die er als "ganz normal" beschreibt. Genauso wie die Mädchen und Buben, die jetzt vor ihm sitzen, sei er damals in die Schule gegangen, habe mit seinen beiden Brüdern gespielt. "Ich war das Sandwich", sagt er, und meint damit, dass er das mittlere Kind in seiner Familie gewesen sei. Einige Jugendliche müssen schmunzeln, als sie das hören.

Mit dem Einzug der Wehrmacht in seine Heimatstadt Kaunas änderte sich die Stimmung schlagartig. Da war Abba Naor 13 Jahre alt. Er und seine Familie wurden mit anderen jüdischen Familien in einem Ghetto isoliert. Sein Bruder wurde beim Einkaufen von Lebensmitteln für die Bewohner des Ghettos erschossen. Später wurden Naor und seine Familie in das Konzentrationslager Stutthof deportiert und voneinander getrennt. Abba Naor musste sich von seiner Mutter und seinem kleinen Bruder verabschieden. Es war ein Abschied für immer: Der Bruder und die Mutter überlebten den Holocaust nicht. Sie waren zwei der vielen Menschen, die in Auschwitz von den Nazis vergast wurden.

Abba Naor und sein Vater sind die einzigen Familienmitglieder, die den Holocaust überlebten. Einige Jugendliche schütteln ihre Köpfe, andere, wie Mia, sitzen ganz still auf ihrem Stuhl, den Blick gesenkt. "Trotz allem, was ich erlebt habe, sage ich noch immer, dass das Leben eine feine Sache ist", sagt Abba Naor. Ein Schüler fragt ihn, wie lange es gedauert habe, bis er über seine Erlebnisse sprechen wollte. Erst 60 Jahre nach dem Holocaust habe er sein Schweigen gebrochen, antwortet Naor. Auf die Frage einer anderen Schülerin, ob er einen Rat an die Jugendlichen hätte, antwortet er: "Mensch bleiben, einen besseren Rat habe ich nicht".

"Ich bin froh, dass ich meinen Glauben in die Menschen nicht verloren habe"

Womit will man ein Zeugnis wie das von Abba Naor in Zukunft ersetzen? An Ideen für neue Wege der Erinnerungskultur mangelt es nicht. Das Projekt "Lernen mit digitalen Zeugnissen", kurz "LediZ" genannt, zeigt, wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Zukunft aussehen könnte. Im Rahmen dieses Projekts wurden die Antworten von Zeitzeugen wie Abba Naor oder Eva Umlauf aufgezeichnet. Mit diesem Material haben Wissenschaftler später Hologramme entwickelt, damit Schüler und Schülerinnen auch zukünftig die Möglichkeit haben, sich interaktiv mit dem Thema Holocaust zu befassen.

Nach zwei Stunden geht eines der letzten direkten Zeitzeugen-Gespräche langsam zu Ende. Beim Verlassen der Mensa sind die Schüler ruhig. Anders als vorher unterhalten sich jetzt nur wenige. Auch Mia und Christopher räumen leise ihre Stühle weg. Ihr Lächeln von vorher ist einem nachdenklichen Gesichtsausdruck gewichen. Sie müssten das Ganze erstmal verarbeiten, sagen sie.

Abba Naor sagt, er sei froh, dass er seinen Glauben in die Menschen nicht verloren habe, vor allem nicht in die Jugend. Dann wendet er sich an die Tutzinger Schülerinnen und Schüler: "Ihr seid die Zukunft Europas, es liegt an euch." Er schweigt kurz, senkt den Kopf - und setzt noch einmal an: "Ich will hoffen, dass ihr das Richtige macht."

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