Flucht und Asyl:Neue Heimat auf 65 Quadratmetern

Lesezeit: 5 min

Ein neues Zuhause hat eine ukrainische Familie in Starnberg gefunden. Von links: Serhii Shved, Ivan (10), Victoria (9), Malika (11) und Alla Sokolenko. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Leben statt Leerstand: Das ist das Konzept von "Raumgeben", vom dem auch eine ukrainische Familie profitiert: Sie fanden endlich ein Zuhause.

Von Viktoria Spinrad, Starnberg

Auf ihrem bunten Sofa prangen weiße Friedenstauben. Daneben steht ein Bett, auf dem Victoria auf- und abspringt. "Vie-le, vie-le, vie-le Platz", ruft das neunjährige Mädchen.

Bett, Schreibtisch, Sofa, dazwischen Puppen und anderes Spielzeug. Das ist Victorias kleines Reich, zehn Quadratmeter allein für sie. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Neunjährige mit ihrer Familie in einer Turnhalle campierte, sich die Geschwister im Dreierzimmer gegenseitig den Schlaf raubten und bei den Hausaufgaben von potenziell 50 Mitbewohnern abgelenkt wurden. Nun sitzt Victoria unten im Wohnzimmer zwischen einem weißen Tulpenstrauß und Familienbildern an der Wand, dann schaut sie staunend umher und sagt mit rollendem "R": "Wirklich schön".

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Sie sind zu fünft: Da ist Mutter Alla Sokolenko, ihr Mann Serhii Shved und die Kinder Victoria, Ivan, 10, und Malika, 11. Eine Patchworkfamilie aus Mykolajiw, einer ukrainischen Hafenstadt zwischen Odessa und Cherson, die heute zur Kriegsfront zählt.

1500 Kilometer westlich ihrer alten Heimat zwitschern die Vögel: Im Starnberger Norden hat die Familie nun eine Heimat gefunden, in einem sanierungsbedürftigen Haus aus dem Jahr 1936. Draußen steht ein Gartenzwerg, drinnen müssten eigentlich Dämmung und Heizung gemacht werden. Der Familie macht das nichts. "Wir sind keine WG gewohnt", sagt der Vater. "Unser Leben hat wieder mehr Struktur", sagt die Mutter. Für sie sind es 65 Quadratmeter Privatsphäre, 65 Quadratmeter Zuflucht, 65 Quadratmeter neue Heimat.

Ihre Geschichte ist eine, die Hoffnung spendet inmitten politisch aufgeheizter Zeiten. Während die Politik über Überlastung, Beschlagnahmungen und Abschiebungen diskutiert, schafft die Zivilgesellschaft mitunter ganz pragmatisch Lösungen. Ansätze, die geflüchteten Menschen helfen, aber auch dem System als Ganzes.

Die neunjährige Victoria in ihrem neuen Reich. (Foto: Viktoria Spinrad)
Im Hausflur hängen selbstgemalte Flaggen von Deutschland und der Ukraine neben einem Weizentopf - ein Andenken an die "Kornkammer Europas". (Foto: Viktoria Spinrad)
Vater Serhii zeigt auf seinem Handy den Frontverlauf entlang Mykolajiw (orange hinterlegt), der Heimatstadt der Familie. (Foto: Viktoria Spinrad)

An der Wand im Wohnzimmer prangt das alte Leben der Familie Sokolenko-Shved. Zusammengekniffene Augen gegen die ukrainische Sommersonne, die Kinder umarmend vor Kirschblüten. In Mykolajiw hatten sie eine eigene Wohnung, Ivan trainierte Kickboxen, die Mädchen klassischen Tanz. Vater Serhii hatte einen kleinen Supermarkt, Mama Alla arbeitete als Rechtsanwaltsgehilfin.

Als die Russen angriffen, flohen sie zunächst nach Rumänien. Wie viele andere auch dachten sie, der Krieg würde ja bald vorüber sein. Als er sich immer weiter zog, zogen auch sie weiter - nach Bayern. Das Datum der Ankunft wissen sie noch genau: 7. April. Sechs Wochen lang campierten sie in einer Gilchinger Sporthalle, dann kamen sie ins Tutzinger Beringerheim: Eine alte Villa auf einem Hügel, die zum Flüchtlingscamp umfunktioniert wurde. Dort lebten sie mit Menschen aus Armenien, Aserbaidschan und Afghanistan zusammen, eine Wohngemeinschaft mit 50 Personen. Wie das war? "Es war schön", sagt Victoria zögernd. "Und blöd."

Alla Sokolenko zeigt Bilder auf ihrem Handy: Weihnachten mit Tannenbaum im Gemeinschaftsraum, Abendessen mit den Mitbewohnern. Das war wohl das Schöne. Serhii Shved spricht in eine Übersetzungs-App. Eine Frauenstimme liest stakkatoartig vor: "In der Küche standen die Leute regelmäßig Schlange, weil es nur einen Zapfhahn gab." Die Mutter erzählt, wie sie zu zweit an einem kleinen Tischchen die Hausaufgaben für den Deutschkurs zu machen versuchten. Das war nicht das einzig Blöde.

In einem Jahr kommen sie auf eine einzige Besichtigung - eine magere Bilanz

Nach zwei Monaten fingen sie an, auf Immoscout eine eigene Wohnung zu suchen, allerdings ohne Erfolg. Sucht man heute auf dem Immobilien-Portal Mietwohnungen mit mindestens vier Zimmern, kommen fünf Ergebnisse, das günstigste davon kostet 1820 Euro kalt. Studien zeigen, dass Ausländer auf dem Wohnungsmarkt häufig diskriminiert werden. Erst über den Helferkreis bekam die Familie eine Besichtigung für eine Tutzinger Wohnung. Doch am Ende sagte der Besitzer ab. Also blieben sie weiter in der Multikulti-Unterkunft - wohlwissend, dass der Vertrag bald auslaufen würde.

Etwa ein Jahr ist es mittlerweile her, dass Helfer in Herrsching am runden Tisch zum Thema Wohnen saßen und sich fragten, wohin man die Menschen aus dem aufzulösenden Containerdorf noch umverteilen könnte. Aus der Not heraus entstand ein Aufruf an die Öffentlichkeit, Grundstücke oder Gebäude zur Verfügung zu stellen. Zugleich kam die Idee auf, die Lücke mit leerstehendem Wohnraum zu füllen.

Im März dieses Jahres entstand die Vermittlungsbörse "Raumgeben", initiiert vom Herrschinger Georg Strasser, dem Tutzinger Peter Frey und einer weiteren Helferin. Die Idee: leerstehenden Wohnraum, der für hiesiges Klientel nicht vermietbar wäre, an Geflüchtete zu vermieten, ein Einkommen für Vermieter zu generieren und zugleich Menschen bei der Integration zu helfen. Eine klassische Win-Win-Situation. Heute prangt auf der Website groß: "Nix leer stehen lassen." Und darunter: "Die Vermietung Ihrer Wohnung oder Ihres Hauses macht Sorgen? Reden Sie mit uns." So klingt Zuversicht in nur zwei Sätzen.

So werben die Raumgeber um leerstehenden Wohnraum. (Foto: Screenshot: SZ)
Als ehemaliger Unternehmensberater denkt Georg Strasser pragmatisch. Er hat die Vermittlungsplattform "Raumgeben" aufgezogen. (Foto: Georgine Treybal)
Sohn Ivan in seinem neuen Reich. Die Herkunft des Schalke 04-Fanschals konnte nicht abschließend geklärt werden. (Foto: Viktoria Spinrad)

Sorgen? Uwe Komogowski kennt diese. Er ist der Vermieter der Familie Sokolenko-Shved. Im Haus wohnte zuvor seine Tante. Als sie starb, wäre er eigentlich selber gerne mit seiner Familie eingezogen, berichtet er am Telefon. Eigentlich müsste das Haus saniert werden, doch "das Ding wieder herzurichten, kostet ein Vermögen." 100 000 bis 150 000 Euro, schätzt er. Geld, das der Fahrlehrer nicht hat und mit dem er sich auch nicht bei der Bank verschulden will.

Also googelte er - und traf auf "Raumgeben". Und damit auf die Idee, das Haus eine Zeitlang Geflüchteten zur Verfügung zu stellen. Er fand die Zahlen des Landratsamts Starnberg: Bis zu 1281 Euro Kaltmiete zahlt das Jobcenter für eine fünfköpfige Familie, unabhängig von der Größe des Objekts. Macht 15 372 Euro im Jahr, und 153 720 Euro in zehn Jahren. Und damit ziemlich genau das Geld für die Sanierung. Er könne dann schuldenfrei in Rente gehen und müsse keine Miete zahlen, sagt Komogowski.

Integrationshilfe als Rechenexempel, mit gutem Gewissen on top: Genau damit werben die Flüchtlingsmakler. "Man muss kein Samariter sein, um zu vermieten", sagt Strasser. So pragmatisch wie das Konzept sind auch die Vermittlungen. Auch, wenn manche Vorbehalte schwer nachzuvollziehen seien, gehe man auf die Wünsche der Vermieter ein. "Bei uns kann man diskriminieren, wie man will", sagt Frey. 16 mal haben die Raumgeber so geflüchteten Einzelpersonen oder Familien seit dem Frühjahr ein neues Zuhause vermittelt und damit etwa 30 bis 40 Personen. "Es steht mehr frei, als man denkt", sagt Frey. "Wir haben uns selber gewundert", sagt Strasser.

Der ehemalige Unternehmensberater ist ein Mann, der in langen Linien denkt. Zum Beispiel so: Je mehr Geflüchtete in leerstehenden Objekten untergebracht werden, desto weniger Containerdörfer braucht es in Zukunft. Diese sind für viele längst zu einer Sackgasse geworden. Fast jeder Dritte in den Unterkünften der Regierung von Oberbayern hat ein Aufenthaltsrecht und müsste eigentlich ausziehen; 344 sogenannte Fehlbeleger sind das insgesamt. So entstehen Verstopfungen im System, die im Landkreis Starnberg nur mit einer gewissen logistischen Akrobatik gelöst werden können, die Kreispolitiker aber zunehmend ratlos machen.

Wie weit reicht die Hilfe der Raumgeber? Kann sie wirklich mehr sein als ein Tropfen auf dem heißen Stein? Auch die ehrenamtlichen Flüchtlingsmakler sehen sich mit einem Ungleichgewicht konfrontiert: Knapp 100 Gesuche stehen derzeit fünf offenen Angeboten gegenüber, die derzeit geprüft werden. "Wir bräuchten dringend noch mehr Angebote", sagt Strasser. Bisher gebe es nur nur positive Erfahrungen mit den Vermittlungen. Auch für die Regierung von Oberbayern sind die Raumgeber eine willkommene Entlastung. Initiativen, die Fehlbeleger bei der Wohnungssuche unterstützen, begrüße man sehr, sagt ein Sprecher.

Tochter Malika spielt mit Hula-Hoop-Reifen im Garten. (Foto: Viktoria Spinrad)
Sohn Ivan präsentiert eine Radlmedaille: Er ist nun Fahrrad-Champion. (Foto: Viktoria Spinrad)

Im Starnberger Norden geht es raus in den Garten. Victoria springt auf ein geschenktes Trampolin, Malika schwingt einen Hula-Hoop-Reifen, Ivan rennt los und präsentiert eine Fahrradmedaille. Der Vater zündet sich eine Zigarette an. Er und seine Frau kämpfen derzeit mit der schweren deutschen Sprache, jeden Tag sitzen sie vier Stunden im Sprachkurs. Egal, wie sich der Krieg entwickelt, sie wollen nun in Deutschland bleiben, der Kinder zuliebe. "Wir haben Chancen in der Ukraine", sagt die Mutter, "aber unsere Kinder haben viele Chancen in Deutschland."

Victoria läuft los, holt eine Urkunde, erster Platz. Malika und sie haben mit ihrer Klasse ein Völkerball-Turnier der bayerischen Schulen gewonnen. Völkerball? Daheim in der Ukraine kannten sie das gar nicht.

Interessierte Vermieter und Mieter können unter www.raumgeben.net ihre Angebote hinterlegen.

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