"Sie sind dabei - herzlichen Glückwunsch" stand in dem Brief, den Ute Kammermeier aus Pöcking vor wenigen Wochen bekommen hat. Normalerweise wandern Schreiben mit derartigen Werbesprüchen bei ihr gleich ins Altpapier, dieses Mal aber nicht. Denn der Brief enthielt die Einladung zur Teilnahme an einem von der Bundesregierung beschlossenen Bürgerrat zum Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben".
Die 75-Jährige erinnert sich noch gut: "Vertraulich, stand darauf, und ob ich Interesse hätte an dem Bürgerrat." Dass sie ausgewählt werden könnte, habe sie sich zunächst gar nicht vorstellen können. Denn sie hatte sich erst intensiv mit Ernährung beschäftigt, als ihr Ehemann an Diabetes erkrankte. Offensichtlich hatte sie aber die Fragen im Teilnahmebogen "richtig" beantwortet, also jene statistisch erforderlichen Merkmale erfüllt, die einem Durchschnittsbürger entsprechen. Sie sei wohl ein "Otto Normalverbraucher", betont sie, allerdings ein bewusster. Nun wird sie am Freitag für drei Tage zu einem ersten Treffen nach Berlin fahren.
Am ersten Tag darf sie den Bundestag besuchen, die restlichen Tage werden die 160 ausgewählten Teilnehmer dann im Hotel verbringen, um Ernährungsfragen zu diskutieren. Etwas Lampenfieber habe sie schon, räumt Kammermeier ein. "Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Es ist etwas ganz Neues für mich." Womöglich müsse sie vor allen Leuten sprechen, das sei ihr unangenehm. Aber ihre Freunde hätten sie unterstützt: Sie schaffe das schon, hätten sie zu ihr gesagt. Insgesamt sind drei Präsenzsitzungen in Berlin geplant sowie sechs Online-Sitzungen. Es soll beraten werden, was die Bürgerinnen und Bürger zum Thema Ernährungspolitik vom Staat erwarten.
Für das Projekt waren zunächst insgesamt 19 327 Bürgerinnen und Bürger aus 82 ausgelosten Gemeinden in einem Zufallsverfahren ermittelt worden, darunter 238 Personen aus Pöcking. In einem zweiten Schritt wurden insgesamt 1000 Personen nach Kriterien ausgewählt, beispielsweise in welchem Bundesland sie wohnen oder wie groß ihre Heimatgemeinde ist. Die potenziellen Teilnehmer sollten die Bevölkerung in Deutschland abbilden, und Kammermeier war zusammen mit fünf weiteren Pöckingern dabei. Anschließend mussten allgemeine Fragen nach Alter, Geschlecht oder Bildungsstand beantwortet werden sowie Details zur Ernährung: Ob sie beispielsweise Fleisch essen, sich vegetarisch oder vegan ernähren. Da eine Teilnehmerin abgesagt hatte, wurden am Ende sechs Pöckinger für den Bürgerrat ausgewählt.
Pöcking ist dank des Losverfahrens überproportional vertreten - ein Zufall
Gleichwohl ist dies ein ungewöhnlich hoher prozentualer Anteil für die 5600-Seelen-Gemeinde im Landkreis Starnberg. Das liegt nach Auskunft vom Bundesverband "Mehr Demokratie", der das Projekt organisiert, nicht etwa daran, dass die Pöckinger besonders gesund leben. "Die scheinbar hohe Teilnehmerzahl kommt durch das geschichtete Losverfahren zustande", teilt dazu die Presseabteilung des Verbands mit. Die nach dem statistischen Abbild gesuchten Merkmale hätten sich eben für mehrere Bürgerrat-Bewerber und Bewerberinnen aus Pöcking ergeben. "Es ist also, wie beim ganzen Bürgerrat, Zufall."
Kammermeier betont, sie habe beim Kochen zwar stets auf frische Zutaten geachtet, sich aber nie besonders intensiv mit dem Thema Ernährung beschäftigt. Das Ehepaar betrieb einst eine Fahrschule in Pöcking. Kammermeier war für Büro und Verwaltung zuständig, hatte also unter der Woche nicht die Zeit, um aufwändig zu kochen. Erst seit die Kammermeiers im Ruhestand sind und beim Ehemann Diabetes festgestellt wurde, kauft die Pöckingerin sehr bewusst ein: Sie holte bei einer Bio-Bäuerin Informationen ein, kauft seither Obst und Gemüse immer beim Fachhändler. Fleisch wird weiterhin gegessen, wenngleich weniger als früher. Sie achte aber darauf, wie die Tiere gehalten wurden und auch auf gute Qualität, erklärt sie. "Dann habe ich auch kein schlechtes Gewissen."
"Vielleicht darf man als kleines Nichts auch mal seine Meinung sagen."
Kammermeier stammt aus Ostdeutschland. Kurz bevor die Mauer 1961 gebaut wurde, kam sie als 13-Jährige nach Pöcking. Die Kindheit in der DDR habe sie geprägt, sagt sie. Fertiggerichte habe es damals nicht gegeben, nur Selbstgemachtes. Nach diesem Prinzip kocht sie noch heute. Zudem lege sie großen Wert auf regionale Produkte. Auch wenn Kammermeier überzeugt ist, dass sich durch die Erkenntnisse des Bürgerrats am Ende nichts ändern wird, freut sie sich auf ihre neue Aufgabe. Denn "vielleicht darf man als kleines Nichts auch mal seine Meinung sagen."