Konzertkritik:Seelenmassage in allen Tonarten

Lesezeit: 2 min

Die Gilchinger Pianistin und Musiklehrerin Elizabeth Hopkins verknüpft Werke von Johann Sebastian Bach mit denen von Igor Strawinsky. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Elizabeth Hopkins erklärt Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertes Klavier" im Gilchinger Rathaus, indem sie die Fugen und Präludien meisterhaft mit Werken späterer Komponisten kombiniert

Von Reinhard Palmer, Gilching

Nun sind es genau 300 Jahre, seit Johann Sebastian Bach den ersten Teil seines "Wohltemperiertes Klaviers" erschuf. Geplant war die Konzertreihe zu Gast beim Kunstforum Gilching für 2021, doch Corona rückte die Abweichung zurecht. Die Gilchinger Pianistin und nicht minder beliebte Musik-Erklärerin Elizabeth Hopkins blieb auch beim ursprünglichen Konzept, den Zyklus nicht am Stück zu spielen, sondern mehrere Präludien und Fugen mit davon beeinflussten Werken späterer Komponisten zu kombinieren.

Auch wenn Bach bereits zu Lebzeiten als "alte Perücke" (Carl Philipp Emanuel Bach) galt und bald in Vergessenheit geriet, erkannten seine großen Nachfolger durchaus das Genie des Meisters, dessen Fortschritt in der abenteuerlichen Harmonik im Grunde erst in der Moderne genutzt werden konnte. Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Brahms haben von ihm gelernt. Dass Hopkins in ihrem zweiten Konzert der Reihe Igor Strawinsky zu Wort kommen ließ, hätte viele Neugierige mehr in den Veranstaltungssaal des Rathauses locken müssen!

Direkte Einflüsse des "Wohltemperierten Klaviers" zu erkennen, ist nicht immer möglich, denn Bachs Zyklus ist extrem reichhaltig, könnte daher im Grunde immer herangeführt werden. Die Nummern acht bis vierzehn, also sieben chromatisch aufsteigende Präludium-Fuge-Paarungen jeweils in Dur und Moll von es- beziehungsweise dis-Moll bis fis-Moll hielten die Effizienz Bachs deutlich vor Ohren: Auf geringstem Raum brachte er unzählige musikalische Formen und pianistische Spielarten unter einen Hut. Letzteres hielt Hopkins der Bestimmung fürs Cembalo angemessen im Bereich der feinsinnigen Differenzierung aus der Phrasierung heraus, lediglich so weit ausgeprägt, dass die jeweilige Charakteristik deutlich zu tragen kam. Um etwa die Heterogenität zwischen dem seligen Fließen des Präludiums und der forschen Kraft der Fuge in Nr. 9 E-Dur herauszustellen. Oder im Gegensatz dazu, um die Übereinstimmung der bewegt bis virtuos eilenden Teile der Nr. 11 F-Dur zu demonstrieren. Zauberhaft interpretierte Hopkins "die zärtlichsten Stücke": die Paarung Nr. 13 Fis-Dur.

Wie auch immer ausgeprägt: Das Wohltemperierte Klavier ist in allen Tonarten eine Seelenmassage. Zumindest in der heutigen Wahrnehmung. Für Strawinsky, der schon 1910 mit dem Feuervogel die Musikwelt aufgemischt hatte, war diese Charakteristik sicher nicht von Interesse. Dass er sich selbst zu Recht als Komponisten der Moderne und nicht der Neoklassik sah, hing hier definitiv von der interpretatorischen Herangehensweise ab. Zwar ist die Sonate in klassischer Dreisätzigkeit konzipiert und weist deutlich bachsche Diktion und Rhetorik auf - Hopkins brachte zum Vergleich Bachs E-Moll-Fuge an -, doch im Nonlegato und Stakkato gehalten offenbarten die Sätze eine Strawinsky-typische Sprödigkeit und Schärfe sowie eine solche Farbigkeit, zumal in der Freitonalität mit chromatischen Wirkungen angereichert.

Als das Hauptmittel, das Strawinsky verwendete, um von Bach abzurücken, erwies sich Melodik, im Kopfsatz etwas irritierend in Terzen über Triolen geführt. Im zentralen Adagietto hätte man nach dem Schema der Klassik wie des Barock einen lyrischen Gesang erwartet. Doch der Auffassung Strawinskys folgend, legte Hopkins auf den pochenden Bass eine unruhig-virtuose Oberstimme, die sich nur noch wenig um melodische Bögen bemühte. Auch im Schlusssatz schrumpften die Themen zu knappen Motiven, während die vorantreibende Motorik Bachs das Szenario bestimmte. Bisweilen werden in der musikwissenschaftlichen Literatur auch Einflüsse von Muzio Clementi und Joseph Haydn aufgeführt, doch geht die Einschätzung dem Ursprung nicht konsequent auf den Grund. Jedenfalls laut der Interpretation von Hopkins, die mit den Präludien und Fugen des "Wohltemperierten Klaviers" das Publikum schon deutlich auf die Bach'sche Musikauffassung eingeschworen hatte.

© SZ vom 24.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: