Literatur:Sätze, die unter die Haut gehen

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Notizblöcke und Zettel sind ihre Weggefährten: Die Feldafinger Autorin Karin Irshaid schreibt immerzu. Ihre Texte durchlaufen eine Entwicklung. (Foto: Nila Thiel)

Die Feldafinger Autorin Karin Irshaid spricht über die Entstehungsgeschichte ihres neuen Buches "Am Ende den Ort wechseln" und ihren ganz persönlichen Bezug zu Palästina.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Feldafing

Der Schreibtisch im Arbeitszimmer von Karin Irshaid nimmt die ganze Wandbreite ein. Überall türmen sich Papierberge. Neben ihrem Computer liegen dicke Stapel mit Zetteln, auf die sie ihre Gedanken mit einem kurzen Bleistiftstummel notiert hat. Im ganzen Haus hat die Feldafinger Schriftstellerin, Malerin und Zeichnerin Notizblöcke verteilt, auch neben ihrem Bett. Wenn ihr nachts etwas einfällt, müsse sie es sofort zu Papier bringen, sonst gehe der Gedanke womöglich verloren, bis sie morgens wach wird. Eigentlich schreibt Irshaid immer. Zuhause, auf Reisen oder wenn sie mit dem Zug unterwegs ist, wie in der Geschichte "Am Ende den Ort wechseln".

Damals tobte gerade die Finanzkrise und jeder hatte Angst. "Die Regierung zittert. Die Unternehmer zittern. Die Aktionäre zittern", schreibt sie. Die Menschen hätten Angst vor Verlusten, vor Luftgeschäften und vor den Banken. "Es regiert die Angst. Die Gier regiert die Angst." Irshaid hat während der Zugfahrt im Jahr 2008 ihre Mitreisenden beobachtet, die keinen Blick für die vorbeiziehende Landschaft hatten, sondern nur ihre Zeitung lasen. "Der Schrecken verfängt sich zwischen den Zeilen, zieht in alle Himmelsrichtungen. Klebt an den Sätzen", schreibt sie. Zunächst weiß die Schriftstellerin nicht, was sie mit ihren Texten anfangen soll. Sie legt sie auf ihrem Schreibtisch zur Seite, holt die Zettel erst viel später wieder hervor und überarbeitet sie. Dann wird aus der ursprünglichen Notiz ein langer Text.

Viele dieser Gedanken und Analysen hat Irshaid in ihrem neuen, mehr als 300 Seiten dicken Buch "Am Ende den Ort wechseln" zusammengefasst. Es sind Texte aus verschiedenen Zeiten, Fragmente und Notizen, bei denen sie immer wieder eine neue Perspektive einnimmt. Neben der Geschichte von der Zugreise im Jahr 2008, die in der krisengeschüttelten heutigen Zeit von neuer Aktualität ist, gibt es auch einen Text mit dem Titel "Innehalten". Mit diesem Text ist sie zur Eröffnung des neuen Feldafinger Rathauses im historischen Bahnhofsgebäude von der Gemeinde beauftragt worden.

Irshaid lebt seit 2005 in Feldafing. Zuvor war sie lange in Bielefeld, weil ihr Ehemann, ein Palästinenser, dort als Arzt arbeitete. Irshaid, die Malerei, Grafik und Kunstgeschichte studiert hat, war seit 1974 freiberuflich tätig, unter anderem als Museumspädagogin in der Kunsthalle Bielefeld. Dort war sie gut vernetzt und hatte auch ein Austauschprojekt angestoßen, um Studentinnen aus Palästina zu fördern. In Bielefeld hat sie sich viel mehr mit Kunst befasst, hatte großformatige Bilder gemalt, die durch das Spiel mit Licht und Schatten farbliche Tiefe erzeugen. Heute hat sich Irshaid aufs Zeichnen verlegt und gestaltet die Umschläge für ihre Bücher selbst. "Zeichnungen sind etwas Intimes", sagt sie. "Man kann nichts korrigieren, im Gegensatz zur Leinwand."

Nach Feldafing zog Irshaid vor knapp 20 Jahren. Da sie in Schwangau geboren ist, hatte sie schon immer einen Bezug zu Bayern, hatte in Ambach Urlaub gemacht und im Feldafinger Hotel Kaiserin Elisabeth Kaffee getrunken. Doch es war Zufall, dass ausgerechnet Feldafing ihre neue Heimat wurde. Sie wollte näher bei ihren Kindern sein, die sich am Bodensee und in Salzburg niedergelassen hatten, und Feldafing lag in der Mitte. Hier fühlt sich Irshaid wohl. Wenn sie mit dem Schreiben Pause macht, geht sie hinaus in ihren idyllischen Garten und werkelt dort. Gartenarbeit sei für sie eine Art Meditation. "Da denke ich nur Erde", erklärt sie.

Mit jeder Person wechselt sie die Perspektive

Auch beim Schreiben denkt und fühlt sie sich intensiv hinein in die Charaktere in ihren Büchern. Sie ist eine Ich-Erzählerin. Manche ihrer Leser meinten, es seien auch ihre Gedanken und Gefühle, die sie beschreibt. Doch das sei nicht der Fall. Mit jeder Person in den Büchern wechsle sie die Perspektive. Das Buch "Reise nach Jerusalem" beispielsweise ist aus der Sicht eines Mannes geschrieben. Sie habe dabei ein wenig an ihren Sohn gedacht, aber sich immer einen ganz anderen Mann vorgestellt. "Plötzlich lebte er für mich."

Ihre Texte sind in präziser Sprache und in prägnanten, kurzen Sätzen verfasst. Sie gehen tief unter die Haut. Das Schreiben falle ihr leicht, sagt Irshaid. "Man setzt sich hin und schreibt." Das Buch ist ihr 17. Werk. Ihre früheren Romane, wie "Das Hochzeitsessen" oder "Reise nach Jerusalem" befassen sich mit dem Nahostkonflikt und haben vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges ebenfalls eine neue Aktualität erreicht. Sie sieht sich aber nicht als politische Autorin. Ihr gehe es um Menschlichkeit. Irshaid hat einen ganz persönlichen Bezug zu Palästina, weil ihr verstorbener Ehemann dort eine große Familie hatte, die inzwischen in der ganzen Welt verstreut ist. Nur noch zwei seiner sechs Schwestern leben heute in Palästina. Irshaid war 1968 zum ersten Mal dort, reist aber heute noch regelmäßig hin. "Damals trugen die Frauen dort kein Kopftuch", sagt sie.

Irshaids Geschichten entwickeln sich. Oft will sie lediglich eine Kurzgeschichte schreiben, wie dies bei ihrem neuesten Buchprojekt der Fall ist. Doch dann wird plötzlich mehr daraus. Inzwischen sind es mehr als 350 Seiten. Was aus dem neuen Buchprojekt wird, weiß sie nicht, da ihre Verlegerin Christl Kiener, mit der sie freundschaftlich verbunden war, kürzlich gestorben ist. Doch sie schreibt einfach weiter. "Irgendwie wird es weitergehen", sagt sie. Sie habe schon immer gerne geschrieben und sie könne nicht anders.

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